Warum die Diskussion über deutsche Friedenstruppen in der Ukraine derzeit konfus und abstrus ist. Ein Ordnungsversuch.
Im September 1795 ist Immanuel Kants berühmtes Büchlein „Zum ewigen Frieden“ erschienen, gedruckt bei Johann Friedrich Hartknoch in Königsberg. Ewiger Friede? Das klingt wie eine Inschrift am Friedshofseingang, ist aber eine menschheitswichtige Realutopie. Zum 230ten Jubiläum des Werks wäre man schon um einen „endlichen Frieden“ in der Ukraine froh – endlich, nach 1282 Tagen Krieg. Von Friedenstruppen ist bei Kant zwar nicht die Rede, sehr wohl aber davon, dass der Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern gestiftet werden muss. Deshalb ist das Wort „Friedenstruppen“, das derzeit so behände gedreht und gewendet wird, ein Sehnsuchtswort – weil es einen Verhandlungsfrieden voraussetzt, der dann von den Friedenstruppen gesichert werden soll.
Es wird heftig darüber diskutiert, wie eine solche Friedenstruppe rekrutiert werden könnte und ob und wie viele deutsche Soldaten dabei sein sollen. Bei dieser Diskussion verschmelzen Futur I und Futur II miteinander, also zwei Ereignisse, die jeweils in der Zukunft liegen – es verschmilzt die Zukunft mit der Vorzukunft. Das Futur II beschreibt eine Situation in der Zukunft, die vor einer anderen zukünftigen Situation bereits abgeschlossen sein muss. Futur II: Das ist der verhandelte Friedensschluss. Die Sicherung dieses Friedens ist Futur I. Weil diese beiden Zukünfte in der aktuellen Diskussion nicht unterschieden werden, läuft sie verquer: Über eine Friedenstruppe wird bisweilen so geredet wie über eine Abschreckungstruppe oder gar wie über eine Truppe zur personellen Verstärkung der ukrainischen Streitkräfte. Segen liegt daher auf dieser Diskussion nicht – wenn und weil sie den Eindruck erweckt, als könne oder solle man schon vor einem Friedensschluss Soldaten schicken. Eine solche angebliche Friedenstruppe, die Eskalation transportiert, wäre keine Friedenstruppe.
Die Unklarheiten der Friedenstruppendiskussionen sind aber eine Fortsetzung der Unklarheiten der deutschen Ukrainepolitik, die den Rechts- und Völkerrechtsfragen, die sich bei der militärischen Unterstützung der Ukraine stellen, bisher ausgewichen ist. Neutral war Deutschland in seiner Ukrainepolitik nie; das musste Deutschland auch nicht sein. Eine Neutralitätspflicht, die die Lieferung von Waffen an eine Konfliktpartei verbietet, ist zwar in den Übereinkommen formuliert, die 1907 auf der 2. Haager Friedenskonferenz beschlossen worden sind: Danach würde, wer Waffen an eine Kriegspartei liefert, selbst zur Kriegspartei.
Seit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 (benannt nach den damaligen Außenministern von Frankreich und den USA), der sich auch in der UN-Charta spiegelt, ist aber die völkerrechtliche Optik eine andere: Grundlegend ist jetzt nicht mehr die Beteiligungsform an einem Konflikt, also die Frage, ob ein Staat „neutral“ oder „Kriegspartei“ ist. Grundlegend ist jetzt das Gewaltverbot und die Frage, wie die Ausübung von Waffengewalt rechtlich zu bewerten ist. Und da ist es so, dass Gewalt klar rechtmäßig ist, wenn sie sich gegen rechtswidrige Gewalt wehrt – wie völlig eindeutig im Fall der verbrecherischen Invasion Putins. In Artikel 51 der UN-Charta ist dieses „naturgegebene Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung“ festgeschrieben.
Annalena Baerbock sagte einmal, „wir“ kämpften einen Krieg gegen Russland
Das klingt klar und ist es auch – aber die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Selbstverteidigung ist wichtig: Wenn andere Staaten, also etwa Deutschland, die überfallene Ukraine bei der Ausübung ihres individuellen Selbstverteidigungsrechts lediglich unterstützen, ist das völkerrechtlich völlig in Ordnung, ja willkommen und ohne Weiteres, also ohne jegliche Melde- oder Anzeigepflichten möglich. Wenn diese Unterstützung der Ukraine durch andere Staaten aber die Schwelle zu einer kollektiven Ausübung des Selbstverteidigungsrechts übersteigt, ist das zwar auch völkerrechtlich gedeckt, aber dieses massive Eingreifen muss dann gemäß UN-Charta sofort beim UN-Sicherheitsrat angezeigt werden; und: Mit der massiven kollektiven Ausübung des Selbstverteidigungsrechts verlässt diese Unterstützung den Bereich der Nichtkriegsführung, sie macht die kollektiven Verteidiger zur Kriegspartei und ihre militärische Unterstützung zur Kriegshandlung.
Die deutsche Regierung hat einer solchen Kriegs-Qualifizierung ihrer Hilfen stets massiv widersprochen – auch dann, als die militärische Unterstützung der Ukraine immer weiter ausgeweitet wurde und immer größere Mengen an Waffensystemen direkt aufs Schlachtfeld geliefert wurden. Als die damalige Außenministerin Annalena Baerbock Anfang 2023, ein knappes Jahr nach dem Beginn der russischen Invasion, bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg sagte: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“, versuchte das Auswärtige Amt zu beschwichtigen und betonte generalbassmäßig weiterhin den alten Sound: Nato und Deutschland seien keine Kriegsparteien; Baerbocks Satz sei nicht als Kriegserklärung zu verstehen.
Ein Staat, der Soldaten in die Ukraine entsendet, um ihr damit Beistand zu leisten, wird unstrittig zur Kriegspartei
Die Regierung Scholz hat der Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern stets eine Absage erteilt mit der Begründung, das Risiko, dass Deutschland damit Kriegspartei würde, sei zu groß. Der Taurus ermöglicht Präzisionsangriffe auf weit entfernte russische Ziele – aber wohl nur nach einer intensiven Einweisung durch deutsche Spezialisten. Indes: Ein Staat, der Soldaten in die Ukraine entsendet, um ihr damit Beistand zu leisten, wird damit unstrittig zur Kriegspartei. Wenn deutsche Kräfte im Nato-Kontext in die Ukraine geschickt würden, um die dortigen Streitkräfte zu stärken und Russland abzuschrecken, wäre das natürlich im Bundestag abstimmungspflichtig. Und vor allem: Die bisherige Grauzone wäre verlassen und die deutsche Kriegsbeteiligung klar; daran würde auch die Bezeichnung „Friedenstruppe“ nichts ändern; das wäre Camouflage.
Völker- und friedensrechtlich am saubersten wäre es, wenn zur Sicherung eines Friedens in der Ukraine eine UN-Blauhelmmission möglich wäre. In Sicherheitskreisen gilt das nicht nur wegen der gigantischen Größe eines solchen Einsatzes als extrem schwierig, sondern vor allem deswegen, weil der UN-Sicherheitsrat zustimmen muss und Russland dort ein Vetorecht hat. Aber die Notwendigkeit von Blauhelmen in der Ukraine könnte einen wichtigen Punkt bei Friedensverhandlungen darstellen. Dabei ist auf den ersten Präliminarartikel der Friedensschrift von Kant besonders zu achten: „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden.“
Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 28.08.2025 in der Süddeutschen Zeitung.