Was ist Heimat – und was hat der Dialekt in der Politik zu suchen? Die Gesellschaft braucht den Mut zur Provinzialität.
Von Heribert Prant
In Österreich gab es soeben aufgeregte Diskussionen über eine angeblich neue Mode in der Politik: das mundartliche Reden. Im ORF-Sommerinterview hatten der SPÖ-Chef Andreas Babler, der Wiener Vizekanzler also, und die Grünen-Chefin Leonore Gewessler auf die Fragen im Dialekt geantwortet. War das, so wurde daraufhin landauf und landab gefragt, Strategie und Pose – oder war das kulturelle Selbstbehauptung und Heimatstolz? Ist das ein Zeichen von Volksnähe oder ein Indiz für Provinzialität?
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, dem die Volksnähe besonders angelegen ist, hat deshalb einen Landespreis für Dialekte ins Leben gerufen und im vergangenen Jahr diesen Preis erstmals verliehen. In seiner Ansprache betonte er, dass Dialekte kulturelle Identität stiften und für Bodenständigkeit stehen. Sein Kabinett hat vor ein paar Monaten eine „Dialektstrategie“ unter dem Titel „Mundarten bewahren und stärken“ verabschiedet – das Schwäbische und das Alemannische als Ausdruck von Identität, Zusammenhalt und Heimatverbundenheit.
Das Reden im Dialekt wurde wie ein Unterschichten-Gebrechen betrachtet
„Was ist Heimat?“ Eine der kürzesten Antworten könnte sein: Dialekt ist Heimat. In Deutschland wie in Österreich ist den Kindern aber jahrzehntelang schon in den ersten Schulklassen das Reden in der jeweils heimischen Mundart ausgetrieben worden; das Reden im Dialekt wurde wie ein Unterschichten-Gebrechen betrachtet und behandelt. Das ist besonders schade, wenn es stimmt, was Kretschmann sagt: dass Mundart nicht empfänglich sei für Extremismus und hohle Phrasen. Er bezog das auf das Schwäbische, das gilt aber auch für andere Mundarten: Das bayerische „Du Oasch“ klingt etwas liebevoller als „Du Arschloch“.
Vor ein paar Wochen durfte ich in Kempten beim Allgäu-Tag über die Bauernkriege reden, die vor fünfhundert Jahren im Allgäu und in Oberschwaben ihren Anfang nahmen – mit einem großen Freiheits- und Gerechtigkeitsmanifest, den zwölf Bauernartikeln von Memmingen des Jahres 1525. Zur Heimat gehört diese Geschichte, zur Heimat gehören diese Geschichten. 1525 ist ein Wurzeljahr der Demokratie: Die Bauernartikel forderten eine Ordnung, in der das Recht herrscht und nicht die Willkür, sie forderten eine Gesellschaft, in der die kleinen Leute nicht mehr geschunden werden, in der die Ressourcen der göttlichen Schöpfung miteinander geteilt werden.
Heimat ist nicht Tümelei
Das Wort Heimat war lange suspekt. Heimat ist in Deutschland so verklärt und verkitscht worden, dass aus einem Wort der Geborgenheit ein Wort der Verlogenheit wurde. Die rechtsextreme NPD hat sich 2023 in „Die Heimat“ umbenannt – ein finaler Missbrauch. Das Wort „Heimat“ war ja immer wieder ein Duft- und Lockstoff der Deutschtümler. Aus einem der deutschesten der deutschen Wörter wurde, wohl gerade deswegen, ein ungutes, eines, das vor allem in den ranzigen und braunen Ecken der Gesellschaft zu Hause war. Das war ein Fehler; diesen Fehler hat die demokratische Politik erkannt.
Man darf die Heimat nicht denen überlassen, die damit Schindluder treiben. Es gibt eine Renaissance der Heimat. In Bayern und in Nordrhein-Westfalen wurde ein Heimatministerium eingerichtet, auch im Bund gibt es ein Ministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat. Der Bundespräsident hielt zum Tag der Einheit eine Art heimatkundlichen Vortrag. Selbst die Grünen buchstabieren das Wort sorgfältig, nutzen es wie ein Zauberwort und gerade so, als könne man damit den Rassismus und den Neonazismus exorzieren.
Man muss sich darüber nicht gleich wieder lustig machen. Es ist gewiss richtig, dass man das Wort Heimat nicht den Rechtsradikalen überlassen darf; der Gehalt des Wortes ist zu wertvoll. Es darf aber auch nicht sein, dass man das Wort nur als Etikett auf eine Politik klebt, die man eh schon immer gemacht hat: Den Grünen wird es zum Synonym für Umweltschutz und Energiewende. Den Sozialdemokraten wird es ein Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit. Den Christdemokraten und Christsozialen wird es zum Ausweis für ihren Konservativismus. Und die AfD erklärt ihre Anti-Flüchtlingspolitik zur Heimatpolitik. Es wäre wenig sinnhaft, wenn das Reden von Heimat nur das alte Geschwurbel über Identität ablösen würde.
Provinz ist ein gutes Wort
Was ist Heimat? Vor ein paar Jahren hat die Kulturzeitschrift Kursbuch ihr Themenheft zur Heimat „Heimatt“ genannt – also Heimat mit nicht nur einem, sondern zwei „t“ hinten. Die Heimat darf keine matte Sache sein, und Kommunalpolitik hat die Aufgabe, etwas gegen die Mattigkeit zu tun, die Agenda 2025 der Provinz muss eine Anti-Mattigkeitsagenda sein.
Das Wort Heimat ist so gut und so wertvoll wie das Wort Provinz. Europa – das sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa, es sind die vereinigten Provinzen von Europa, Europas Sprachen sind die Mundarten, die dort gesprochen werden. Europa – das sind Burgund, Brabant, Böhmen, Bosnien, Pommern und Piemont; Asturien, Flandern und Allgäu, das Jütland, die Oberpfalz und die Lombardei, Navarra, Latium, Pannonien.
Provinz ist ein gutes Wort, Provinz ist ein reiches Wort, Provinz ist da, wo die Zusammenhänge überschaubar sind. Provinz ist Heimat, und der Dialekt ist ihre Sprache. Heimat ist mehr als eine Postleitzahl, mehr als eine Adresse irgendwo. Wenn sich die Provinz entvölkert, geht es vor allem darum, wie man junge Menschen zum Bleiben oder zur Rückkehr bewegt. Heimatliche Politik ist eine Politik, die den Menschen ihre Unsicherheit nimmt; gute Heimatpolitik denkt nicht nur an die Sanierung von Denkmälern, sondern, zum Beispiel, an die Sanierung der Mietpolitik und der Rentenpolitik.
Wenn man sich das Wohnen in den Städten und das Leben im Alter nicht mehr leisten kann, dann ist man entheimatet. Immer mehr Menschen sind von dem, was „Globalisierung“ genannt wird, austauschbar gemacht worden. Das Gefühl einer flüchtigen Existenz haben auch Menschen in den Ländern, in die sich Flüchtlinge flüchten – und so erleben viele Menschen selbst in wohlgefügten Gesellschaften wie in Deutschland oder Österreich die Flüchtlinge als Boten eines Unglücks, das auch ihnen selbst auflauert. Also wehren sie sich gegen die Fremden, um ihnen nicht gleich zu werden; sie sehen diese als Menetekel. Das ist der Boden, auf dem wieder die alten Wahnideen wachsen, der Nationalismus und der Rassismus.
Einer guten Heimatpolitik geht es nicht einfach nur um Brauchtumspflege, nicht um Beschilderung von Wanderwegen und nicht darum, dass die Marktplätze alle zehn Jahre andersherum gepflastert werden. Heimat ist das, was Halt gibt – gute Arbeit, gute Wohnung, gute Gesundheitsversorgung, gute Infrastruktur. Eine Politik, die Halt gibt, ist eine Politik gegen den Extremismus. Was gibt Halt? Auch Wurzeln geben Halt. Deshalb ist es auch wichtig, von der Geschichte der Heimat, von den Geschichten der Provinz zu reden – am besten in der Sprache der Provinz. Dialekt ist Heimat. Die deutsche und europäische Gesellschaft: Sie brauchen den Mut zur Provinzialität.