Vor sechzig Jahren fällte das Landgericht Frankfurt die Urteile im ersten Auschwitz-Prozess: Es waren Blicke ins Labyrinth der Schuld. Und: An Auschwitz scheitert jede Gewissheit.
Von Heribert Prant
Keiner, kein Einziger, legte ein Geständnis ab. Keiner, kein Einziger, zeigte Reue. Der hessische Generalstaatswalt Fritz Bauer wartete vergeblich auf ein menschliches Wort von einem der Angeklagten im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Geständnis? Reue? „Die Welt würde aufatmen“, sagte Bauer, und „die Luft würde gereinigt“. An der Wand hinter der Richterbank hing ein Lageplan der Vernichtungsfabrik Auschwitz. 1,2 Millionen Menschen waren dort vergast, vergiftet, erschossen oder totgeprügelt worden. Das letzte Wort eines der Angeklagten, des bestialischen Auschwitz-Folterers Wilhelm Friedrich Boger, SS-Oberscharführer, aber lautete so: „Ich habe nicht totgeschlagen, ich habe Befehle ausgeführt.“ Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, ein Überlebender des Warschauer Ghettos, schrieb seinerzeit: „Wie ließe sich Auschwitz in zwei Worte zusammenfassen? Doch wohl nur: deutscher Mord.“
211 Auschwitz-Überlebende konnten als Zeugen vor Gericht in allen Einzelheiten schildern, was sie erlebt und erlitten hatten. Der Bundesgerichtshof hatte aufgrund der energischen Initiative von Fritz Bauer das Landgericht Frankfurt als zentralen Gerichtsstand für die angelaufenen Auschwitz-Verfahren festgelegt. Die größte Furcht der in Auschwitz Überlebenden kurz vor Ankunft der sowjetischen Befreiungstruppen im Januar 1945 war es gewesen, dass man sie noch als lästige Zeugen beseitigen und die Welt dann nie über das Leben und Sterben im Vernichtungslager erfahren würde – so schreibt die Historikerin Irmtrud Wojak in ihrer Einführung zu einer Gedenkausstellung über den Auschwitz-Prozess.
Als die Mörder tatterig wurden
Vor sechzig Jahren wurden die Urteile gesprochen in diesem Verfahren mit dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63: 17 Angeklagte wurden wegen 15 209 Morden verurteilt: sechs der Angeklagten als Mörder, weil sie „zusätzliche Formen von Grausamkeit“ praktiziert hätten. Die anderen galten lediglich als Mordgehilfen, als Rädchen im Vernichtungsbetrieb, weil sie kein eigenes Interesse an der Tat gehabt hätten. Sie hatten zwar an der Rampe von Auschwitz entschieden, wer sogleich vergast und wer erst zum Arbeitseinsatz kommandiert werden sollte. Aber sie wurden, selbst wenn sie eigenhändig getötet hatten, als fremdgesteuerte Funktionsträger betrachtet. Solche Verharmlosung änderte sich erst Jahrzehnte später, als die Mörder und Totschläger, so sie noch lebten, schon gebrechlich, tatterig und schwerhörig waren.
Damals hatten sie, im Schlachthaus der Weltgeschichte, für „Ruhe und Ordnung“ gesorgt. Sie hatten hungernde Kinder Kot fressen lassen und sie anschließend erschossen. Sie hatten getötet, wen und wann sie wollten, tausend- und zehntausendfach. Später hatten sie dann in den USA oder in Lateinamerika Forellen und Kaninchen gezüchtet und dort als brave Bürger gegolten. Sie lebten angepasst und unauffällig, und die deutsche Justiz spürte jahrzehntelang wenig Antrieb und wenig Lust, sie noch zu verfolgen: „Es war halt Krieg“, hieß es oft entschuldigend.
Pseudo-bürgerliche Achtung für NS-Verbrecher
Ernst Müller-Meiningen jr., der große Publizist der Süddeutschen Zeitung, der dort 35 Jahre lang die rechts- und innenpolitische Kommentierung prägte, prangerte das vor sechzig Jahren an in seinem Leitartikel, der „Nach dem Auschwitz-Urteil“ überschrieben war. Er kritisierte „eine gewisse Passivität der deutschen Justiz“ und monierte, dass deutsche Wahlredner einer solchen Gesinnung Vorschub leisten, indem sie „an nationalistische Instinkte appellieren wie dieser Tage beifallumtost Franz Josef Strauß in Niedersachsen: ‚Wir müssen herauskommen aus dem falsch verstandenen Sühnedeutschtum‘.“ Am Ende seines Leitartikels geißelte Müller-Meiningen „die pseudo-bürgerliche Achtung“, die den NS-Verbrechern von weiten Kreisen entgegengebracht würde, gleichsam als handle es sich um Kavaliersdelikte: „Es sprach Bände, als neulich, im Kulmhof-Prozeß, der ein Auschwitz-Prozeß in kleinerer Ausgabe war, ‚nur‘ 150 000 Ermordete, ein Zuhörer in der Verhandlungspause die Verteidigung befragte, ob er sämtliche Angeklagte, die hernach zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt wurden, zum gemeinsamen Mittagessen einladen dürfe.“
Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess hieß offiziell „Strafsache gegen Mulka und andere“ und hatte das Aktenzeichen 4 Ks 2/63. Robert Mulka, geboren 1895, war SS-Hauptsturmführer und Adjutant des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß gewesen. Vor Gericht behauptete er, von den Vergasungen im Lager nichts gewusst zu haben: „Ich hatte mit Vergasungen nichts zu tun.“ Er wurde nicht als Täter, sondern, wegen angeblich nicht nachweisbarem Täterwillen, nur als Gehilfe zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt und schon 1966, im Jahr nach dem Urteil, aus der Haft nach Hause entlassen – wegen Haftunfähigkeit nach Kreislaufschwäche.
„Massenmörder müsste man gewesen sein“
Der Jurist, Publizist und Literaturwissenschaftler Alfred Kantorowicz kommentierte die Auschwitz-Urteile, nachdem er 1966 ein Foto von Mulka bei der Gartenarbeit gesehen hatte, mit Bitterkeit: Vor allem, wenn man „vom Wohlergehen des Herr Mulka liest, der heute, behördlich abgeschirmt, im Kreis seiner Familie sein Gärtchen vor oder hinter dem Eigenheim pflegt, behaglich, ‚gemütlich‘, friedlich, eins mit sich und seinem Volk, – dass es dann aus einem herausbricht: ‚Massenmörder müsste man gewesen sein, um in diesem Lande seinen Lebensabend genießen zu können.‘“
Erst 2015, fünfzig Jahre nach dem ersten Frankfurter Auschwitz-Urteil, hat es der Lüneburger Strafprozess gegen Oskar Gröning, einen Buchhalter von Auschwitz, mit sich gebracht, dass ein NS-Angeklagter seine Schuld bekannt hat, seine moralische Schuld wenigstens; das hatte es bis dahin kaum je bei einem dieser Angeklagten gegeben.
Desto wichtiger wird die Erinnerung
Am Holocaust-Gedenktag 2018 mahnte der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bei der Gedenkstunde im Bundestag, nichts als selbstverständlich hinzunehmen – nicht die Demokratie, nicht den Rechtsstaat, nicht die Gewaltenteilung: „An Auschwitz scheitert jede Gewissheit. Und deshalb müssen wir sensibel sein, wachsam, selbstkritisch. Je weiter die Zeit des Nationalsozialismus zurückliegt, desto wichtiger wird die Erinnerung.“ Diese Erinnerung ist ganz besonders wichtig, wenn es heute darum geht, ob und wann und wie die Waffen der wehrhaften Demokratie eingesetzt werden sollen, die das Grundgesetz bereithält – gegen die Holocaust-Verharmloser und die Holocaust-Leugner, die in der AfD ihre Heimat haben.