Masse und Macht: Was Elias Canetti an seinem 120. Geburtstag zu der Kampagne gegen die Juristin zu sagen hat – und warum die Autorität des Verfassungsgerichts leiden könnte, wenn sie als Richterin verhindert wird.

Die Verleumdungskampagnen gegen die Staatsrechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf hatten am Freitag, 11. Juli, ihren Höhepunkt erreicht: Die Abstimmungen im Bundestag über die schon nominierten drei Verfassungsrichter wurden ihretwegen abgesetzt. Wenige Tage später, am Dienstag, 15. Juli, wurde folgendes Urteil verkündet: Die Täter, die den Frevel ins Werk gesetzt hatten, sind für schuldig befunden worden; das Gericht schickte sie für vier Jahre und drei Monate ins Gefängnis. In der Begründung legte die Richterin den Tätern ihre Entschlossenheit zur Last, sie betonte die sozialen und die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Tat und sprach von einem Schaden, der niemals wieder vollständig gutgemacht werden könne; sie hielt den Tätern vor, dass bei ihnen von Reue und Einsicht keine Spur zu erkennen sei. Das strenge Urteil solle deshalb auch ein abschreckendes Signal sein.

Wenn Sie jetzt sagen, von so einem Urteil hätten sie nichts gehört, haben Sie recht. Das Urteil vom 15. Juli hat nicht das Landgericht Berlin gefällt, sondern der Newcastle Crown Court. Und das Urteil galt auch nicht den Rufmördern der Frauke Brosius-Gersdorf, sondern den Baummördern des sogenannten Robin-Hood-Baumes im englischen Northumberland. Die Täter hatten diesen Baum umgesägt; der Baum war dann beim Umstürzen auf den Hadrians-Wall geschlagen. Die zwei Männer wurden deshalb wegen doppelter Sachbeschädigung verurteilt – am Baum und am Bauwerk aus der Römerzeit.

Im Fall Brosius-Gersdorf gibt es sehr viele Täter

So klar ist die Sachlage im Fall Brosius-Gersdorf nicht. Zum einen ist Brosius-Gersdorf, im Gegensatz zum Baum, bisher nur angesägt, nicht abgesägt. Zum anderen gibt es da nicht nur zwei Täter, sondern sehr viele, die auf sehr vielen Online-Plattformen viele falsche Informationen und Narrative weiterverbreitet und noch radikalisiert haben. Sie handelten systematisch und strategisch: Ihre Mail-Werkzeuge ermöglichten es, automatisiert Bundestagsabgeordnete aufzufordern, Brosius-Gersdorf abzulehnen; das taten dann zigtausend aufgehetzte Netznutzer; die Mailaccounts der Abgeordneten liefen über. Es war und ist dies ein Exempel für die „Hetzmasse“, wie sie Elias Canetti in seiner anthropologischen Studie „Masse und Macht“ beschreibt.

Das einschlägige Kapitel beginnt bei Canetti wie folgt: „Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel (…) mit einer Entschlossenheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los.“ Am Schluss schildert Canetti den Einfluss von Zeitungen auf die Hetzmasse: Im Publikum der Zeitungsleser habe sich eine gemilderte, aber durch ihre Distanz von den Ereignissen umso verantwortungslosere Hetzmasse am Leben erhalten: „Da sie sich nicht einmal zu versammeln braucht, kommt sie auch um ihren Zerfall herum, für Abwechslung ist in der täglichen Wiederholung der Zeitung gesorgt.“ Was Canetti im Jahr 1960 für die Zeitungen seiner Zeit sagt, gilt für das digitale Netz von heute in Potenz. An diesem Freitag ist der 120. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers.

Es ist nicht leicht, die Grenze zu strafbarer übler Nachrede und Verleumdung zu ziehen

Die Kausalität der rufmörderischen Hetze von Online-Diensten für den Aufstand von zahlreichen Unionsabgeordneten gegen die Staatsrechtsprofessorin wird schwer zu beweisen sein; die Abgeordneten werden sich auf ihre Gewissensfreiheit berufen – sie hätten sich ihr eigenes eigenständiges Urteil gebildet, sich dabei nicht von der Kampagne indoktrinieren lassen. Und wie kann, wie soll man mit den Campagneros, mit den publizistischen Rufmördern, umgehen? Den Baummördern in Nordengland sprang keine Baumabsägefreiheit zur Seite; eine solche gibt es nicht. Die Rufmörder von Berlin werden sich aber sowohl auf die Meinungsfreiheit als auch auf die Pressefreiheit berufen. Die Meinungsfreiheit erlaubt es auch Professoren, ihren Anstand zu vergessen, einem rechtsradikalen Blatt wie der Jungen Freiheit ein sehr beflissenes Interview zu geben, darin der AfD nach dem Mund zu reden und einen ethnisch-deutschen Volksbegriff zu vertreten. So tat es seltsamerweise der Ehemann der Frauke Brosius-Gersdorf (und widersprach damit seiner Frau, ohne sie ausdrücklich zu nennen).

Die grundgesetzlich abgesicherten Freiheiten rechtfertigen nicht verleumderische Gemeinheiten und Lügereien. Aber: Es ist nicht ganz einfach, die Grenze zu ziehen zwischen einer gerade noch zulässigen scharfen Zuspitzung, also einer aggressiven Pointierung, einerseits und einer strafbaren üblen Nachrede und Verleumdung andererseits. Die Juristen, die in England den Baummord zu beurteilen hatten, taten sich da erheblich leichter. Man muss daher kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Rufmörderei in Deutschland kein strenges strafrechtliches Nachspiel haben wird. Aber auch dann bleibt die Hetze gegen Brosius-Gersdorf eine verwerfliche Frevelei.

Die Verleumder sollten nicht auch noch belohnt werden

Wenn es den Hetzern auf diese Weise gelingt, eine in Fachkreisen hochrespektierte Rechtswissenschaftlerin mit Erfolg zu desavouieren, wenn das dazu führt, dass das Wahlgremium vor der Wahl der Desavouierten zurückschreckt – dann haben die Rufmörder den Erfolg gehabt, den sie erzielen wollten. Dann werden sie nicht nur nicht bestraft, sondern auch noch belohnt. Und dann verdunkelt sich die Zukunft des Verfassungsgerichts, weil die Gefahr besteht, dass sich renommierte Juristen diesem Bewerbungsverfahren nicht mehr aussetzen wollen. Dann leidet die Qualität der Beratungen, dann leidet die Autorität dieses Gerichts.

Das Gericht hat seine Autorität nicht dadurch gewonnen, dass es mit oder gegen den echten oder vermeintlichen Zeitgeist schwamm. Sein guter Ruf beruht darauf, dass die Republik gelernt hat: Am Schlossbezirk Nummer 3 in Karlsruhe wird akkurat und tiefschürfend gearbeitet, akkurater und tiefschürfender jedenfalls als früher in Bonn oder jetzt in Berlin. Das soll und das muss so bleiben. Deshalb braucht das Gericht auch solche Persönlichkeiten, die gut begründet und rechtsstaatlich fundiert Mindermeinungen vertreten. Ohne Karlsruhe wäre die Bundesrepublik eine andere Republik – eine, in der das Recht weniger Bedeutung und die Grundrechte weniger Glanz hätten.

Das Gericht hat daher nicht symbolische Bedeutung wie der Hadrians-Wall in England, sondern höchst praktische und politische. Wenn es künftig Scharfmachern mit flink gewetzten Vorurteilen gelingt, hochqualifizierte Richterinnen und Richter anzusägen oder abzusägen, steht die Zukunft des Gerichts unter einem schlechten Stern. Die Ernennung von Frauke Brosius-Gersdorf darf deshalb nicht scheitern.

Hinweis: Diese Kolumne erschien zuerst am 24.07.2025 in der Süddeutschen Zeitung.