Wie sich das Familienrecht aus seiner Steinzeit herausgearbeitet und wer dabei mitgeholfen hat. Der Kerngedanke heute lautet: Jedes Kind hat ein Recht auf Eltern.

Von Heribert Prant

Bis heute haben viele den „Schwab“ in ihrem Regal stehen: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums in drei Bänden. Von 1838 bis 1840 schuf Gustav Schwab diesen Klassiker für Kinder und Jugendliche, er wurde immer wieder neu aufgelegt und auch gern von Erwachsenen gelesen. Kein Wunder, denn es geht darin um das, was alle angeht. Es geht um sämtliche Arten von Familiendramen, die man sich vorstellen und nicht vorstellen kann: Vernachlässigung von Kindern, Ehekriege, Generationenkonflikte, Erbstreitigkeiten, außereheliche Kinder, Ödipuskomplex, Patchworkfamilien – bis hin zum Mord von Vätern und Mütter an Söhnen und von Söhnen an Müttern und Vätern.

In meinem Bücherregal stehen, auf einem Ehrenplatz, noch Bände von einem anderen Schwab: nicht von Gustav Schwab, sondern von Dieter Schwab. Darin geht es um dasselbe Thema, also um die Familie – aber nicht um die Familie in grauer Vorzeit, sondern um die Familie von heute. Dieter Schwab, emeritierter Regensburger Juraprofessor, ist der Doyen des Familienrechts in Deutschland. Er ist soeben neunzig Jahre alt geworden. Seit über fünfzig Jahren prägt er das Recht für Ehe und Familie, seit über einem halben Jahrhundert trägt er dazu bei, es in Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen, ebnet er den Weg für ein Recht, das die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert und alte Verkrustungen sprengt. Das Familienrecht ist ein Recht geworden, das dynamisch ist. Dieter Schwab hat dafür gesorgt, dass Dynamik nicht Beliebigkeit bedeutet.

Gesetzlicher Beschwörungsversuch

Zwar heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch immer noch, dass die Ehe „auf Lebenszeit“ geschlossen sei. In Paragraf 1353 Absatz 1 BGB steht das heute so: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“ Aber dieser Satz ist eine Lüge oder, freundlich gesagt, ein Beschwörungsversuch: Die Bedeutung der Ehe nimmt ab. Die Bedeutung der nichtehelichen Lebensgemeinschaften nimmt zu, die Zahl der Ein-Personen-Haushalte auch. Die Ehe hat ihre Exklusivität und die Legitimität der Normalität, die sie lange Zeit genossen hat, eingebüßt. Man kann das bedauern, aber es ist ein Faktum: Die Ehe hat ihren alten Wert verloren und das Ehegattensplitting hat ausgedient damit, diesen Wert weiterhin zu verteidigen.

Scheidungen sind so selbstverständlich geworden wie Eheschließungen. Und das bürgerliche Eherecht hat seine Bedeutung nicht mehr so sehr in der Ehe, sondern nach der Ehe. Erst bei der Scheidung und nach der Scheidung kommt es kräftig zum Tragen. Man kann das alles bedauern oder nicht – es ist so. Das Recht achtet seit geraumer Zeit weniger auf die Ehe, es achtet viel mehr auf Kinder und Familien.

Ist das ein Werteverlust? Nein, es ist eine Werteverlagerung. Der Stellenwert der Ehe nimmt ab, der Stellenwert von Familie nimmt zu. Die Sorge der Gesellschaft gilt den Kindern, nicht mehr der Ehe – und es wäre schön, wenn dies endlich auch im Grundgesetz deutlichen Niederschlag finden würde. Ungeachtet dessen gilt heute jedenfalls: Familie ist nicht nur Vater-Mutter-Kind. Familie ist jeder Ort, an dem ein Kind verlässlich erfahren kann: „Ich bin wertvoll“ und „Ich kann dem Leben vertrauen“. Familie ist der Ort, an dem ein Kind in seiner Entwicklung geschützt und gestützt wird – zumindest sollte sie dieser Ort sein.

Verlässliche Bezugspersonen

Es gibt viele dieser Orte, an denen Kinder diese wichtigste aller Lebenserfahrungen machen können – wie gesagt: nicht nur die Vater-Mutter-Kind-Familie. Auch die Mutter-Mutter-Kind-Familie. Auch die Mutter-Kind-Familie. Auch die Vater-Kind-Familie. Auch die Patchworkfamilie. Auch die sogenannten Regenbogen-Gemeinschaften, für die es noch gar keinen richtigen Namen gibt. Die Hauptsache ist, dass diese Orte Schutz und Nähe geben. Familie ist jeder Ort, an dem – das klingt ein wenig pathetisch, stimmt aber – der Mensch zu Ende geboren werden kann. Familie ist der Ort verlässlicher Bezugspersonen, wie immer dieser Ort ausgestaltet und organisiert ist, wie immer dort die Beziehungen der Menschen geflochten und verflochten sind, ob es nun leibliche Eltern sind oder soziale Eltern, die dem Kind die Ruhe und die Gefasstheit geben, die es braucht. Und dies ist möglichst auch dann zum Wohle des Kindes sicherzustellen, wenn die Eltern sich trennen.

Das Recht muss dabei helfen, die Strukturen, die Orte und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass ein Kind genau das spüren kann: Ich bin wertvoll. Das ist der gute Unterbau für ein ganzes Leben. Den Namen Familienrecht verdient nur ein Recht, das wenigstens ein wenig dazu beiträgt.

Die Idylle, ihre Kehrseiten und die Wirklichkeit

Die Steinzeit des Familienrechts ist noch nicht so lange her. Sie war die Zeit der vermeintlichen Idylle einer Vater-Mutter-Kind-Familie, bei der der Vater das alleinige Sagen über die Mutter und die Kinder hatte. Dieses idealisierte familiäre Leben hat lange dazu geführt, dass das, was da vermeintlich nicht hineinpasste, äußerst abfällig behandelt wurde; das war die Kehrseite der Idylle. Das galt für die nichtehelichen Kinder, das galt für die Schwulen und Lesben als Eltern und für alle sonst, die nicht der vermeintlichen Norm entsprochen haben. Es ist schier unglaublich, wie lange die Stigmatisierung nichtehelicher Kinder und deren Mütter gedauert hat – bis weit, weit in die Zeiten des Grundgesetzes hinein.

Ledige Mütter waren geächtet, sie wurden vom Gesetz so behandelt, als wären sie nicht ganz zurechnungsfähig. Ihnen wurde, das ist erst ein paar Jahrzehnte her, das Jugendamt als Vormund vor die Nase gesetzt; ihre Kinder galten als Kinder dritter Klasse. Die Väter wollten mit ihnen nur selten etwas zu tun haben – und das Recht gab ihnen bis in die jüngere Vergangenheit recht: Das „un“eheliche Kind war zwar genetisch mit dem Vater verwandt, aber nicht rechtlich. Das ist nicht viele Jahrhunderte her, sondern nur ein paar Jahrzehnte.

Bis 1969 war das so, obwohl das Grundgesetz da schon seit zwanzig Jahren galt. Es waren die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter in Karlsruhe, die die Hand ausstreckten und die nichtehelichen Kinder Stück für Stück aus dem Abseits zogen. Der Familienrechtler Dieter Schwab hat das alles begleitet, kommentiert und forciert. Er war kein Revoluzzer, aber ein feinsinniger Reformer. Er war dreißig Jahre lang Vorsitzender der Wissenschaftlichen Vereinigung für das Familienrecht und ist heute ihr Ehrenvorsitzender. Er hat jahrzehntelang die „Zeitschrift für das gesamte Familienrecht“ herausgegeben. Sein Lehrbuch „Familienrecht“, 1980 erstmals publiziert, erscheint soeben in der 33. Auflage.

Jedes Kind hat ein Recht auf Eltern, so sagt es das Bundesverfassungsgericht, auch das nichteheliche Kind. Das ist, in einem einzigen Satz, heute der wesentliche Inhalt des Sorgerechts. Dieses trachtet danach, dass auch unverheiratete Eltern das Sorgerecht gemeinsam ausüben. Es ist gewiss richtig, dass eine Affäre etwas anderes ist als eine Ehe oder eine feste, andauernde Beziehung – aber nicht für das Kind; und auch nicht für den Vater, was die Verantwortung für sein Kind angeht. Elterliche Verantwortung tragen Mutter wie Vater gleichermaßen. Beide sollen sich um das Kind kümmern, das ist der Kerngedanke des Sorgerechts. Nur wenn das an der Zerstrittenheit und Uneinsichtigkeit der Eltern scheitert und dadurch das Kindeswohl Schaden nimmt, ist die Sorge und Verantwortung für das Kind einem Elternteil allein zuzuweisen, um dem Kind dennoch ein gedeihliches Aufwachsen zu ermöglichen.

Familie kann und soll der Ort der Widerständigkeit sein gegen den gesellschaftlichen Beschleunigungsdruck. Familie kann und soll ein Ort des Gegendrucks sein gegen den Druck, der von außen, von den Medien zum Beispiel, erzeugt wird. Familie kann, soll, muss ein Ort des Zur-Ruhe-Kommens sein. Jeder Ort, an dem Kinder dies erfahren, ist Familie. Und Recht ist dafür da, diese Erfahrung nicht nur zu ermöglichen, sondern zu stärken.

 


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