Was bedeuten sie heute, die grässlichen Spuren der Deutschen in Osteuropa? Von der Gegenwart der Vergangenheit, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Von Heribert Prantl

Vor 77 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Dazu ein Eintrag aus den letzten Kriegstagen. Es ist ein Eintrag aus dem Tagebuch des damaligen Flakhelfers Dieter Borkowski vom 15. April 1945. „Mittags“, so erinnert er sich, „fuhren wir mit einem völlig überfüllten S-Bahn-Zug vom Anhalter Bahnhof ab. Mit uns im Zug waren viele Flüchtlingsfrauen aus bereits von den Russen besetzten Gebieten im Osten Berlins, die ihre gesamte Habe bei sich führten: einen prallen Rucksack. Sonst nichts. Das Grausen stand in den Gesichtern, Zorn und Verzweiflung erfüllte die Menschen. Noch niemals habe ich solch ein Schimpfen gehört … Da brüllte inmitten des Lärms jemand mit überlauter Stimme: ‚Ruhe!‘

Wir entdeckten einen kleinen verdreckten Soldaten, an der Uniform beide Eisernen Kreuze und das Deutsche Kreuz in Gold. Am Ärmel trug er vier kleine Panzerwagen aus Metall, was bedeutet, dass er vier Panzer als Einzelkämpfer abgeschossen hatte. ‚Ich will euch mal was sagen‘, schrie er, und im S-Bahn-Abteil trat Ruhe ein. ‚Auch wenn es euch nicht passen sollte! Wir müssen diesen Krieg gewinnen, wir dürfen nicht schlappmachen. Denn wenn die anderen siegen und die Russen, Polen und Tschechen nur zu einem kleinen Prozent das mit unserem Volk machen, was wir sechs Jahre lang mit ihnen gemacht haben, dann lebt in wenigen Wochen kein Deutscher mehr. Das lasst Euch von einem gesagt sein, der sechs Jahre lang dabei war in den besetzten Ländern!‘ Es war ganz still geworden im Zug. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.“

Der Soldat mit den Eisernen Kreuzen wusste, was seine Generäle, als sie dann vor dem Nürnberger Gerichtshof standen, nicht mehr wissen wollten, und was sie später, als sie ihre Erinnerungen schrieben, ausgeblendet haben. Er wusste, dass der Hitler-Krieg kein Krieg war wie jeder andere, sondern die Ausführung eines rassistischen Vernichtungsprogrammes. In Russland und auf dem Balkan war er Massenmord an der Zivilbevölkerung, war er Ausrottung der Juden.

Dazu Generalfeldmarschall von Reichenau, kommandierender General der 6. Armee, am 10. Oktober 1941: „Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben“.

„Säubern des flachen Landes“

Es gab viel von diesem Verständnis: „Abends suchte unser Leutnant 15 Mann mit starken Nerven heraus. Wir warteten in gespannter Erwartung auf den Morgen. Pünktlich um 5.00 Uhr waren wir fertig, und der Oberleutnant erklärte uns unsere Aufgabe. Es gab ungefähr 1000 Juden im Dorf Krupka, und diese mussten heute alle erschossen werden … ein tiefer Graben voll Wasser. Die ersten zehn mussten sich neben jenen Graben stellen und sich bis zur Hüfte ausziehen. Dann mussten sie in den Graben hinunter und wir, die wir sie erschießen sollten, standen am Rande über ihnen. Ein Leutnant und ein Feldwebel waren bei uns. Zehn Schüsse fielen, 10 Juden waren abgeknallt. Dieses ging weiter, bis alles erledigt war. Nur wenige von uns behielten ihre Fassung. Die Kinder klammerten sich an ihre Mütter, Frauen an ihre Männer … Ein paar Tage später wurde eine ähnlich große Zahl in Kholoponichi erschossen. Auch hieran war ich beteiligt.“ Das ist auch ein Tagebucheintrag, der Tagebucheintrag des Obergefreiten Richard Heidenreich vom 354. Infanterie-Regiment am 5. Oktober 1941, Nähe Minsk.

„Sicherstellung der Juden“ hieß das im Besetzer-Jargon, oder „Säubern des flachen Landes“. In diesem Wortsinn stimmt der Satz von der sauberen deutschen Wehrmacht, der vor 25 Jahren, bei der hochumstrittenen Wehrmachtsausstellung von deren Kritikern immer wieder behauptet wurde. Diese Wehrmacht war Komplizin der SS bei drei Großverbrechen: bei der Vernichtung der Juden in Osteuropa, beim Terror gegen die Zivilbevölkerung und beim Massenmord an den Kriegsgefangenen.

Die Wehrmacht marschierte mit dem Ruf „Juden kaputt“ ein in die sowjetischen Städte und Dörfer; sie bekämpfte Partisanen, als es noch gar keine gab, indem sie jeden Juden zum Partisan erklärte. Und als dann 1942 wirklich eine russische Partisanenbewegung entstand, wurde vom Oberkommando der Wehrmacht jeglicher Terror für rechtens erklärt: „Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt“ (Befehl vom 16. Dezember 1942).

Der Zweite Weltkrieg ging vor 77 Jahren in Europa zu Ende; in Asien dauerte er noch Monate länger. Am 7.Mai 1945 unterzeichnete der deutsche Generaloberst Adolf Jodl im Hauptquartier von US-General Dwight D. Eisenhower in Reims/Frankreich die Urkunde mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches. Die Zeremonie wurde am folgenden Tag, in der Nacht vom achten auf den neunten Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt; dort unterschrieb Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht. In Russland wird dieser Tag als Feiertag begangen.

Die Wehrmachtsausstellungen

Ich habe mir die erregt diskutierten Wehmachtausstellungen ins Gedächtnis gerufen, die ich seinerzeit publizistisch begleitet habe. Die erste dieser vom Hamburger Institut für Sozialforschung ausgerichteten Ausstellungen (von 1995 bis 1999) hatte den Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, die zweite Ausstellung (von 2001 bis 2004) hieß „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“. Diese zweite reagierte auf Kritik, die an der ersten Ausstellung geübt worden war, und korrigierte etliche Fehler bei der Zuordnung des historischen Materials. Beide Ausstellungen machten die Verbrechen der Wehrmacht vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Vor 25 Jahren ist die Wehrmachtsausstellung in München gezeigt worden. Nirgendwo anders in den 14 österreichischen und deutschen Städten, in denen die Ausstellung zuvor präsentiert worden war, war es so wie in München: Noch bevor die erste Stellwand stand, wurde das Projekt dort unter einer Lawine von Kritik und Vorurteilen begraben. In München kulminierte und explodierte damals eine Debatte, die mit der ersten Präsentation der Ausstellung im Frühjahr 1995 in Hamburg begonnen hatte. „Hauptstadt der Bewegung“, Münchens brauner Name aus der Nazi-Zeit, stand wieder in den Schlagzeilen.

Ich habe den Katalog zur Wehrmachtsausstellung aus Anlass des Jahrestages des Kriegsendes wieder zur Hand genommen: Galgen, Galgen, immer wieder Galgen. Genickschüsse. Erhängte mit Schildern um den Hals. Geiselerschießungen. Massengräber. Welches dieser Bilder hatte der Flakhelfer in der Berliner S-Bahn bei seinem Aufschrei vor Augen? Ist er es, der da zufrieden vor den erschossenen Opfern posiert? Ist er es, der prüfend das Leichenfeld überblickt? Verscharrt er die Erschießungsopfer von Šabac in Serbien? War er dabei, als im ukrainischen Tarnopol Juden mit Knüppeln und Spaten erschlagen wurden? Welche Galgen hat er gebaut? Kennt er die Kameraden, die sich dort an die Stricke hängen, um mit Klimmzügen zu testen, ob sie fest genug sind? Ist er es, der der 17-jährigen Lepa Radić den Strick um den Hals legt? Gehört er zu der Kompanie, die 800 Frauen, Kinder und Greise als Kugelfänger vor sich hergetrieben hat? Gehört er zu den Flak-Batterien, die das Kriegsgefangenenlager in der ukrainischen Stadt Hajssyn beschossen haben?

Hat er damit „nur seine Pflicht getan“, wie man in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts gern sagte und wie man es den Soldaten der Wehrmacht bei den erregten Debatten über die Wehrmachtsausstellung noch immer zu Gute gehalten hat? Hat auch er sich später selbstmitleidig ins Kollektiv der Opfer gereiht, seinen Platz in der Nachkriegsgesellschaft eingenommen und wortreich verschwiegen, was geschehen ist?

Was Erinnern verlangt

Ich habe das Interview mit dem Neurobiologen Thomas Elbert (in der SZ vom 9. April) aus Anlass der Verbrechen von Butscha noch einmal nachgelesen; Elbert beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Psychobiologie der Gewalt. Das Interview beginnt mit den Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine: Wahrscheinlich, so leitet die Kollegin Christina Berndt das Interview ein, hätten sich viele Menschen kaum vorstellen können, dass ein Volk wie das russische, das als kulturell so hoch entwickelt gelte, mitten in Europa solche Kriegsverbrechen begeht. Der Neurobiologe Elbert antwortet: „Da erinnere ich mich an ein anderes kulturell hoch entwickeltes Volk, das vor 80 Jahren den ganzen Kontinent mit einem furchtbaren Krieg überzogen hat.“

„Erinnern“, so hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker, in seiner berühmten Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, gesagt, „heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des Inneren wird“. Indes: Wie geht das? Wie das geht, das muss jede Generation für sich, das muss jeder Einzelne für sich selbst erfahren. Erinnerung an den Krieg funktioniert für achtzig- und neunzigjährige Menschen anders als für dreißigjährige.

Immer gilt aber: Das Reden über Vergangenheit bleibt fruchtlos, wenn es nicht die Gegenwart einbezieht. Und umgekehrt gilt das in gleicher Weise. Für einen nachgeborenen Menschen muss Erinnerung mehr sein als das, was Großeltern erzählt haben, mehr als das, was man in der Schule gelernt und was man gelesen hat. Erinnerung – das ist die Unruhe, die einen packt, wenn man, zum Beispiel im Katalog der Wehrmachtsausstellung blättert und bei den Bildern verharrt. Erinnerung heißt spüren, was solche Bilder für einen selbst, ganz persönlich, bedeuten.

Erinnerung macht die Entsorgung der Vergangenheit unmöglich. Erinnerung, die einen ergreift und packt – solche Erinnerung verhindert, dass der Widerstand gegen Gewalt und Barbarei zu einem einbalsamierten Ausstellungsstück wird. Erinnerung führt zur Befreiung.


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