Gerhard Trabert weiß, dass er die Wahl zum Bundespräsidenten nicht gewinnen kann. Die Linken habe ihn nominiert als aussichtslosen Gegenkandidaten für den Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier – und die SZ hat Trabert befragt, warum er sich das antut. Im Interview mit dem Kollegen Boris Herrmann am 10. Januar erzählt Trabert, dass er zwar keine Chance, aber ein Anliegen hat: Er will „die Armut und die Ungerechtigkeit auf die Agenda setzen“. Er tut das im Interview auf sehr sympathische Weise.

Trabert, heute 65 Jahre alt, hat einst seine Doktorarbeit über Obdachlose geschrieben. Dann war er als Arzt in Indien in einem Leprakrankenhaus und hat miterlebt, wie dort die Ärztinnen und Ärzte in die Communitys gefahren sind, um die Kranken zu versorgen. Dieses Konzept übernahm er dann für die Wohnungslosen in seiner Heimatstadt Mainz: Wenn der Patient nicht zum Arzt komme, dann müsse der Arzt halt zum Patienten gehen. Trabert macht das mit seinem Arztmobil, mit einem zum Sprechzimmer umgebauten Transporter.

Bei der Bundestagswahl trat der parteilose Arzt, Professor und Sozialarbeiter für die Linke in Mainz an und holte 12,4 Prozent der Erststimmen – ein Achtungserfolg. Den wird Trabert auch als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung haben.

Der Sandler

Die Kandidatur von Gerhard Trabert für das Amt des Bundespräsidenten hat das Thema Obdachlosigkeit auf die Agenda gesetzt. Ich habe daher einen Roman darüber noch einmal die Hand genommen, der im Herbst 2020 erschienen ist. Markus Ostermair hat ihn geschrieben, er heißt „Der Sandler“. Der Schriftsteller lässt Obdachlose zu Wort kommen – Karl, Lenz und Kurt. Aus jedem Satz quillt, so schrieb der SZ-Rezensent Alex Rühle, „der Bodensatz des Elends“ und trotzdem sei das Buch ein „tiefes Lesevergnügen“. Da hat der Kollege recht.

Nur in der älteren Literatur ist Obdachlosigkeit eine schöne Angelegenheit. Die Obdachlosen heißen dort Bettler. Und der Bettler gehörte Jahrhunderte lang zu den urigen Hauptpersonen der Komödie. In den Liedern und Balladen des 19. Jahrhunderts ist es so, dass man geradezu neidisch wird, wenn man kein Bettler oder Vagabund ist. Da wird das freie Bettlerleben gelobt und da macht man sich lustig über die Reichen und die Könige, mit denen sie angeblich nicht tauschen möchten; da wird die Freiheit gepriesen und das lustige Leben im Wald und auf der Landstraße besungen. Bei Markus Ostermair ist das realistischer. Er kennt das Milieu aus seiner Zivildienstzeit und aus weiteren neun ehrenamtlichen Jahren bei der Münchner Bahnhofsmission. Deshalb schreibt er nicht nur von der Freiheit eines Sandlerlebens, sondern von Sehnsucht nach Nähe und Liebe, von Angstzuständen, Schmerzen und Scham.

Oft sind Obdachlose gebildet, manche sind sogar promoviert. Sie haben Kinder aus zerbrochenen Ehen, sind durch Unfälle seltsam geworden, werden Schuldgefühle nicht mehr los. Es gelten in ihrer Parallelwelt untereinander hohe Werte von Freundschaft, Verantwortung und Gerechtigkeit. Der Weg zurück in die Normalität wäre allerdings mit Gängelung, Unterordnung und Kontrolle verbunden; das packen viele nicht mehr. Der Roman ist ein Blick in eine nahe, ferne, fremde Welt.

Markus Ostermair, Der Sandler. Roman, Osburg-Verlag, Hamburg 2020. Das Buch hat 371 Seiten und es kostet 22 Euro.

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