Bei der Organspende geht es um Solidarität und Nächstenliebe. Es geht aber auch um die letzten Dinge, um die Fundamentalfragen des Menschseins. Wem gehört der Mensch? Ein neuer Antrag im Bundestag fordert dazu auf, diese Fragen neu zu beantworten.

Von Heribert Prantl

Sie warten auf die Lebensrettung: Auf den Wartelisten für ein neues Organ stehen derzeit achteinhalbtausend Menschen. Sie alle warten, sie warten verzweifelt. Viele von ihnen sterben, bevor sie ein Organ bekommen. Das ist die Situation. „Es geht um Lebensrettung“, so werben daher die Befürworter der sogenannten Widerspruchslösung, die soeben überfraktionell einen Gruppenantrag im Bundestag eingebracht haben. Sie wollen, dass jeder Mensch nach seinem Tod automatisch ein potenzieller Organspender ist – es sei denn, er hat schon zu Lebzeiten widersprochen.

Vor gut vier Jahren, am 16. Januar 2020, hat der Bundestag diese sogenannte Widerspruchslösung schon einmal abgelehnt und sich für die sogenannte „erweiterte Zustimmungslösung“ entschieden; diese erlaubt eine Organentnahme nur dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten ausdrücklich erklärt hat, dass er nach seinem Tod Organspender sein will. Die „Erweiterung“ bei dieser erweiterten Zustimmungslösung besteht darin, dass nach dem Tod des potenziellen Organspenders auch Hinterbliebene zustimmen können. Das genügt den Verfechtern der Widerspruchslösung nicht. Sie haben einen neuen parlamentarischen Anlauf für ihre Lösung unternommen und klagen darüber, dass es viel zu wenige Organspender gibt. Daher wird sich der Bundestag nun also erneut mit den letzten Dingen beschäftigen müssen.

Die Widerspruchslösung berührt Menschenwürde und Totenruhe

Wann ist der Mensch tot? Wann darf ein Organ entnommen werden? Das sind Fundamentalfragen. Sie müssen fundamental diskutiert und beantwortet werden. Es berührt Menschenwürde und Totenruhe, wenn die Widerspruchslösung jeden Menschen zum potenziellen Organspender macht – einen jeden nämlich, der der Organspende nicht rechtzeitig widersprochen hat. Ganz gewiss: Es ist nicht hoch genug zu würdigen, es ist Selbsthingabe, wenn ein Mensch für den Fall seines Hirntodes bereit ist, seine Organe – Augen, Herz, Niere – oder Gliedmaßen zu spenden, um einem anderen, der ihm in der Regel fremd ist, das Leben zu retten. Aber: Darf dieser Rettungsakt staatlich dekretiert werden? Darf der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen an sich ziehen, weil dieser Mensch sich nicht klar genug geäußert, also nicht ausdrücklich widersprochen hat? Der Mensch gehört nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst.

Die Befürworter der Widerspruchslösung erklären den hirntoten Menschen zum Leichnam und argumentieren, ein Toter dürfe ja auch ohne seine frühere aktive Zustimmung obduziert werden. Wenn man das zur Verbrechensaufklärung dürfe, dann doch erst recht zur Lebensrettung. Das klingt plausibel. Jedoch ist der Organspender, anders als der Tote auf dem Sektionstisch des Gerichtsmediziners, ein Mensch, dessen Blut noch fließt und bei dem Organe (das Hirn ausgenommen) noch arbeiten und Reflexe zeigen. Ob so ein Mensch tot oder ob er noch Person ist – darüber entscheiden nicht allein medizinische Geräte und der festgestellte irreversible Totalausfall des Hirns. Sterben und Tod sind nämlich kein punktuelles Ereignis, sie sind ein Prozess, der eingebettet ist in die kollektive Seele und in kulturelle Vorstellungen vom Menschsein.

Darf der Staat die Scheu der Menschen vor dem Tod beiseiteschieben?

Die Organspende verkürzt den Sterbeprozess. Das geht nur mit der ausdrücklichen Zustimmung dieses Menschen; sein Schweigen darüber als Zustimmung zu interpretieren, wäre eine Missachtung der Selbstbestimmung. Gewiss ist ein Widerspruch, wie ihn die Widerspruchslösung verlangt, eigentlich nur eine kleine Mühe. Seine Befürworter meinen daher, es sei jedem Menschen zuzumuten, ein solches „Nein“ zur Organentnahme zu formulieren und sich mit der Thematik zu beschäftigen. Aber: Darf man wirklich gezwungen werden, das Selbstverständliche, die Achtung von Integrität und Selbstbestimmung, von Sterbens- und Totenruhe erst durch eine Erklärung sicherzustellen?

Es gibt Menschen, die sich, bevor sie den Organspendeausweis mit ihrer Zustimmung oder ihrem Widerspruch zur Organspende ausfüllen, in die Tiefen des Themas einarbeiten. Es gibt andere, die weichen der Auseinandersetzung aus. Es gibt Menschen, die sich ihren sterbenden, lebensunfähigen, ihren toten Körper nicht vorstellen wollen oder jedenfalls Lebenslagen, in denen sie diese Vorstellung nicht aushalten. Darf der Staat diese Scheu als Bequemlichkeit bezeichnen und für unerheblich erklären? Darf der Staat also stellvertretend rational und nüchtern sein? Ist ein Mensch feige, wenn er sich den Fundamentalfragen über sein Ende nicht stellt oder nicht stellen will?

Selbst wenn man das als Feigheit bezeichnen wollte: Der Mensch darf auch feige sein. Und der Staat darf die Ängste und die Beklemmungen, die einen Menschen erfassen mögen angesichts der inneren Bilder von seinem Tod, nicht durch seine Entschlossenheit und Nützlichkeitserwägungen beiseiteschieben.

Die Widerspruchslösung gilt in vielen Staaten Westeuropas schon – beispielsweise in Österreich, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Das beantwortet aber die gestellten Fragen nicht. In Deutschland kommt zu diesen Fragen die Erinnerung an den Organspendeskandal von 2012 hinzu, in dem bekannt wurde, dass bei Transplantationen systematisch gegen geltende Richtlinien verstoßen wurde. Vertrauen schafft man da nicht per gesetzlicher Anordnung. Es kann und darf nicht eine Organabgabepflicht für den Todesfall geben. Der Mensch hat seinen Körper nicht von einer GmbH geleast, er muss ihn nicht nach dem Ende der Laufzeit zurückgeben. Und die Menschenwürde hört mit dem Hirntod nicht auf.

 


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