Ja, es war so. Aber die Spuren des Verschwindens sind heute AfD-blau. Und die deutsche Einheit ist noch lange nicht „vollendet“.

Von Heribert Prantl

In der Präambel des Grundgesetzes steht eine Schwindelei; über diese Schwindelei ist bei den Feiern zum Grundgesetzjubiläum nicht geredet worden. In der Einleitung des Grundgesetzes heißt es nämlich seit der Wiedervereinigung, dass die Deutschen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands „vollendet“ hätten. Aber das stimmt nicht.

Die Deutschen haben vor bald 35 Jahren die Einheit vollzogen, aber nicht vollendet. Das Wahlergebnis bei den Europawahlen zeigt es deutlich und drastisch: Durch Deutschland geht ein Riss. Die politische Landschaft ist geteilt – exakt dort, wo einst die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR verlief. Die Wahllandkarte der neuen Bundesländer ist einheitlich AfD-gefärbt, denn die rechtsextreme Partei hat dort fast überall die meisten Stimmen gewonnen. Und bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September greift die AfD nach der Macht. Soll das dann die Vollendung der Einheit sein?

Was sich in den Wahlergebnissen von heute spiegelt

Noch nie zuvor ist ein Staat so geordnet und so penibel aufgelöst worden wie vor bald 35 Jahren die DDR. Der „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands“, unterschrieben am 31. August 1990 im Berliner Kronprinzenpalais, war eine tausendseitige Glanzleistung der Bürokratie. Er regelte das Schicksal der Nationalen Volksarmee der DDR genauso wie das der DDR-Verordnung über unterirdische Hohlräume. Beide hatten nicht mehr lang Bestand. Im Osten blieb kein Stein auf dem anderen. Für die Ostdeutschen änderte sich damit, so zitiert der Historiker und Publizist Peter Bender in seinem Buch über „Deutschlands Wiederkehr“ eine Thüringerin, „alles außer der Uhrzeit und der Jahreszeit“. Für Westdeutsche änderte sich zunächst außer den Postleitzahlen nichts.

Der spätere Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der in der DDR-Verhandlungskommission seines Cousins, des DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (CDU), arbeitete, erinnerte sich an die Veränderungsbereitschaft West wie folgt: Sie „war null“. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bestritt das gar nicht und begründete dies damals so: Es handele sich ja um den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, „nicht um die umgekehrte Veranstaltung“. Die Einheit, so wie im Einigungsvertrag konzipiert, war die Erweiterung Westdeutschlands, nicht die Vereinigung zweier Staaten. Die Folgen spiegeln sich in den ostdeutschen Wahlergebnissen von heute.

Emotionale Fremdheit

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und der ostdeutsche SPD-Politiker Markus Meckel haben nun vorgeschlagen, die Volksabstimmung über das Grundgesetz, wie sie der Artikel 146 noch immer vorsieht, nachzuholen; ein solcher Schritt würde eine „emotionale Fremdheit“ gegenüber dem Grundgesetz in Ostdeutschland überwinden helfen. Petra Pau, die Vizepräsidentin des Bundestags, hat sich dem Vorschlag angeschlossen; die Linken-Politikerin ist der Meinung, es gehe dabei darum, das Grundgesetz „als gemeinsame Grundlage nochmals zu verankern“. Das Grundgesetz so per Volksabstimmung in eine Verfassung zu verwandeln, „könnte ein kluger Weg sein, das Bewusstsein über die Grundwerte unseres Gemeinwesens zu schärfen.“ Am Ende des Diskussionsprozesses könne dann, so Pau, die Streichung des Artikels 146 stehen.

Wohlgemerkt: Es geht bei diesem Vorschlag nicht um eine Reform, nicht um ein überarbeitetes Grundgesetz, auch nicht um kleine Ergänzungen. Es geht einzig und allein darum, eine Volksabstimmung über das Grundgesetz zu veranstalten – und ihr auf diese Weise eine höhere, eine plebiszitäre Weihe zu geben.

Der große Staatsrechtler und frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm lehnt das ab: Er hält es „für keineswegs sicher“, dass die Bestätigung per Volksabstimmung „dem Grundgesetz eine höhere Anerkennung im Osten verschaffen würde“. Es würden sich wohl viele fragen, „wozu der Aufwand gut sein soll“, wenn es lediglich um eine Namensänderung von „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ zu „Verfassung der Bundesrepublik Deutschland“ gehe. Zu befürchten wäre, so Grimm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, eine geringe Beteiligung an der Volksabstimmung, „die dann als Vertrauensverlust gedeutet werden könnte, ohne es zu sein“.

Die Ministerpräsidenten von Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Dietmar Woidke (SPD) und Reiner Haseloff (CDU), argumentieren auch so ähnlich und lehnen eine solche Volksabstimmung ab. „Von Volksabstimmungen zum Artikel 146 Grundgesetz hat kein einziger Ostdeutscher etwas“, sagt Woidke. Er will diesen Artikel einfach abschaffen.

Das aber wäre ein Tort für Europa. Warum? Man braucht diesen Artikel 146 dringend, wenn man Europa stärken will. Die Möglichkeiten des Grundgesetzes zur Übertragung nationaler Souveränität auf Europa sind ausgeschöpft. Es muss per Volksabstimmung darüber entschieden werden, ob es einen Staat Europa geben darf. Das geht in Deutschland nicht ohne Plebiszit. Es muss per Volksabstimmung eine kraftvolle Grundgesetzergänzung beschlossen werden, die das weitere Zusammenwachsen Europas befördert. Zwölf Sterne hat die blaue Flagge Europas; die Sterne sind blass geworden. Eine Volksabstimmung kann, soll, muss sie wieder zum Leuchten bringen.


Newsletter-Teaser