Die Gewaltenteilung in der EU hinkt gewaltig. Und quer durch die Mitgliedstaaten macht eine nationalistische Front Stimmung gegen dieses Einigungsprojekt. Gedanken zur Europawahl und zur Zukunft des Kontinents.

Von Heribert Prantl

 

Die Europäische Union hat an Größe gewonnen, aber nicht an Stärke. An Stärke gewinnen stattdessen, fast überall in Europa, die europafeindlichen Rechtsaußenparteien. Wenn Europa Glück und Verstand hat, fallen die Wählerinnen und Wähler auf diese nicht herein. Die Rechtsaußenparteien sind nämlich die Heiratsschwindler bei der Vermählung Europas mit der Zukunft. Sie wollen aus dem neuen Europa wieder das alte machen, es wieder zerstückeln und diese Stücke bewachen. Sie betrachten Europa als parzellierte Landkarte und stecken in die Felder ihre Fahnen und Namensschilder. Das ist nicht Zukunft, das ist Vergangenheit.

Was kommt heraus, wenn sich mehr als zwei Dutzend mehr oder weniger funktionierende parlamentarische Demokratien zusammentun? Ginge es zu wie in der Mathematik, dann müsste eigentlich eine leidlich funktionierende große Demokratie herauskommen. Europa addiert sich aber nicht nach den Gesetzen von Adam Riese. Die große Addition hat bisher nicht zu einem Mehr, sondern zu einem Weniger an Demokratie geführt. Die Parlamente in den Mitgliedstaaten sind partiell entmächtigt, das Europaparlament aber ist noch nicht wirklich ermächtigt worden.

Europäische Integration besteht nicht darin, ihre Fehler zu betonieren

 

Die eigentliche Macht in der Europäischen Union hat nach wie vor der aus den nationalen Regierungen bestehende Europäische Rat, daneben steht die mit dem Rat oft konkurrierende EU-Kommission. Dieser europäischen Exekutive in Brüssel fehlt das politisch-parlamentarische Korrektiv; die Gewaltenteilung in Europa hinkt gewaltig. Das einzig durch Wahlen wirklich umfassend und respektabel demokratisch legitimierte europäische Organ, das EU-Parlament, ist, trotz allerlei neuerer Kompetenzen, an Befugnissen immer noch das Schwächste. Es gibt Staatsrechtler und Europa-Experten, die behaupten, dass sich das Defizit durch eine Reform der europäischen Institutionen nicht beheben lasse.

Das ist ein Ausdruck von Kleinmütigkeit, Mutlosigkeit und Resignation. Europa soll zu demokratischer Klarheit und Wahrheit nicht fähig sein? Wer das sagt, verachtet die Kraft und die Intelligenz einer jungen, europäisch aufgewachsenen Generation; es ist überheblich, so zu tun, als sei die politische Fantasie mit den zwei, drei ersten Nachkriegsgenerationen erloschen; und es ist destruktiv, so zu tun, als seien die Fehler, die beim Aufbau eines vereinten Europas gemacht worden sind, unabänderlich; es ist fatal, so zu tun, als hätten die offene Marktwirtschaft und der absolute Vorrang des Wettbewerbsprinzips eine Ewigkeitsgarantie. Europäische Integration besteht nicht darin, ihre Fehler zu betonieren.

Die EU-Kommission muss eine echte Regierung werden

 

Es ist gewiss nicht einfach, aber auch nicht unmöglich, die EU-Kommission zu einer europäischen Regierung umzubauen; sie muss weg davon, die Nationalstaaten zu repräsentieren; sie muss hin zu einer Regierung, die die politischen Mehrheitsverhältnisse in der EU widerspiegelt.

Es ist gewiss nicht einfach, aber auch nicht unmöglich, diese Kommission dann erstens unter die Kontrolle eines umfassend ermächtigten Europaparlaments zu stellen sowie zweitens unter die Kontrolle einer zweiten Kammer, die aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten besteht. Es ist auch gewiss nicht einfach, aber ganz gewiss nicht unmöglich, die Ermächtigung des Europäischen Parlaments mit einem einheitlichen europäischen Wahlgesetz zu beginnen, das dann an die Stelle der bisherigen nationalen Europawahlgesetze tritt.

Das Europäische Parlament braucht nicht nur Kompetenzen, es braucht Repräsentativität: Die Europawahlen müssen künftig aus den nationalen Kontexten herausgelöst, sie müssen europäisiert werden. Das Europäische Parlament ist ja nicht mehr, wie früher, die Vertretung der europäischen Völker, sondern die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten.

Europa braucht ein einheitliches europäisches Wahlrecht

 

Das Wahlrecht hat dies noch nicht nachvollzogen, die Abgeordneten des Parlaments werden immer noch nach den nationalen Wahlrechten gewählt. Solange die europäischen Repräsentanten sich nur gegenüber den Wählern ihrer Heimatländer verantworten müssen, bestimmen nationale Befindlichkeiten, nationale Egoismen, nationale Taktiken und kurzatmige nationale innenpolitische Themen ihre Agenda – nicht aber das europäische Gemeinwohl. Europa braucht ein einheitliches europäisches Wahlrecht; und es braucht europäische Parteien. Die europäischen Parteien treten derzeit nur als Fraktionen im Europäischen Parlament auf. Sie müssen heraus aus diesem Gehege, sie müssen sichtbar werden, sie müssen neben die nationalen Parteien treten.

Es gärt in Europa. „Ob es Wein oder Essig werden wird, ist ungewiss.“ Der Philosoph Georg Christoph Lichtenberg hat diesen Satz vor gut 230 Jahren während der und über die Französische Revolution notiert. So ergeht es heute in Europa. Es gärt in Europa. Eine nationalistische Front macht quer durch Europa Front gegen Europa; sie macht Front gegen die Werte der Aufklärung, gegen die Achtung von Minderheiten; sie macht Front gegen ein Europa der offenen Grenzen; sie sucht das Heil also wieder dort, wo einst das europäische Unheil begonnen hat. Die nationalistische Front rollte Stacheldraht aus und hält das für zukunftsgerichtete Politik. Aber je mehr eine Zivilisation sich einmauert, desto weniger hat sie sie am Ende zu verteidigen.

Europa ist ein Zukunftsprojekt; so ist die EU angelegt – als Projekt der Vielfalt und der Toleranz. Europäische Demokratie heißt: Zukunft miteinander gestalten.

 


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