Der Rechtsprofessor, der mich, es ist schon ewig her, für das Völkerrecht, für die Menschenrechte und das Asylrecht begeistert hat, hieß Otto Kimminich. Es war im ersten und zweiten Semester meines Studiums; Kimminichs Vorlesungen waren für mich das Spannendste, was die Juristerei zu bieten hatte. Der Ordinarius war ein leidenschaftlicher Humanist, einer, der sich wunderbar in Rage reden konnte, wenn es um Menschenrechte ging, einer, der Flucht und Vertreibung am eigenen Leib erlebt hatte.
In Erinnerung sind mir seine Vorlesungen nicht nur deshalb, weil die Themen so aufregend und die Art seines Vortrags so temperamentvoll waren; in Erinnerung sind sie mir auch wegen der fast absurden Szenerie, in der sie stattfanden. Es war in einem der größten Hörsäle der Uni; dort verlor sich ein sehr kleines Häuflein von Studierenden, mehr als ein Dutzend waren es nie. Ich wunderte mich stets, warum da so wenig Interessenten waren – bis mir ein Kommilitone höheren Semesters ausführlich erklärte, dass das „Menschenrechts-Zeug“ zwar gut und schön und eigentlich ganz wichtig sei, „aber nicht klausurrelevant“; und ich solle deshalb schleunigst in die Vorlesungen über den Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches gehen und in die Vorlesungen über das Vertragsrecht, in denen man lernt, wie der Kauf einer Zahnbürste rechtlich funktioniert. Ich fand dergleichen zwar medioker, sah aber ein, dass die „Scheine“ in diesen Disziplinen abzulegen waren. Es war der kleine Abschied von einer großen Illusion über den Gehalt, das Wesen und den Wert der Rechtswissenschaft.
An die Völkerrechtsstunden bei Otto Kimminich habe ich bei Lektüre des grandiosen Buches von Philippe Sands gedacht. Sands ist Menschenrechtsanwalt und Professor am University College London, ein Kenner des Völkerrechts und ein kunstvoller Erzähler. In seinem Buch „Die letzte Kolonie“ schildert er die Entwicklung des Völkerrechts am Exempel der Bewohner des Chagos-Archipels, der mitten im Indischen Ozean liegt, zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Die Insel wurde von den Briten an die Amerikaner verschachert, die Chagossianer mit Waffengewalt vertrieben; sie passten nicht in die geopolitischen Strategien und sie passten nicht zu den militärischen Experimenten, die stattfinden sollten. Hier, im Kleinen, lässt sich die Herablassung, der Dünkel, die Überheblichkeit und die neokoloniale Arroganz der Großmächte gut erklären. Sands macht das packend und mit kimminich’scher Verve.
David Pfeifer, der SZ-Korrespondent in Süd-Ost-Asien mit Sitz in Bangkok, hat über dieses Buch geschrieben: „Wer heute begreifen will, wieso die Inder nicht gleich dabei sind, wenn westliche Staatschefs Solidarität bei den Sanktionen gegen Russland fordern, oder wieso viele afrikanische Regierungen lieber mit Russen und Chinesen paktieren als mit den Europäern oder Amerikanern, sollte das Buch dringend lesen.“ Er hat recht. Dieses Buch ist ein Lehrstück. Ich stelle es mir ins Regal neben das „Humanitäre Völkerrecht“ meines Lehrers Kimminich.
Philippe Sands: Die letzte Kolonie. Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean. Das Buch ist 2023 im S. Fischer Verlag erschienen. Es hat 320 Seiten und kostet 25 Euro. Thomas Bertram hat es aus dem Englischen übersetzt.