Als er dieses Buch schrieb, war er schon fast blind: Er schreibt darin an gegen das Veralten im Alter; er schreibt, wie er immer geschrieben hat, mit zwei Fingern: und er merkt, dass er die Tasten nicht mehr richtig trifft. Er schreibt und schreibt und sinniert und träumt, er philosophiert, er kalauert – und richtet sich nachts um 2.05 Uhr im Bett auf, weil ihm ein Reim gekommen ist: „Meines Lebens süßeste Stütze ist ein Glas mit süßer Grütze“. Günther Rühle war ein angesehener, ein großartiger Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, Feuilletonchef der FAZ, Intendant des Schauspiel Frankfurt, ein sensibler, furioser, streitbarer und weiser Mensch.
Sein „merkwürdiges Tagebuch“ ist sprachgewaltig und von feiner Intimität, es hat den Titel „Ein alter Mann wird älter“ – und es offenbart Rühle „als einen wissend Suchenden, der absolut unsentimental und dadurch herzergreifend seinem Leben und seiner Zeit nachsinnt“; so hat es der Dramaturg Hermann Beil im Dezember 2021 in seiner Beerdigungsrede für Rühle treffend gesagt.
„Ich treibe in eine Landschaft voller Nebel“, so Rühle, „er wird von Morgen zu Morgen dichter“. Rühles Tagebuch beginnt im Oktober 2020 und es endet im April 2021. Ein Leben lang hat Rühle aus sich heraus geschrieben, er hat, wie er immer wieder gesagt hat, beim Schreiben gedacht. In seinem Tagebuch schreibt er in sich hinein. Es ist so ein sehr anrührendes, lehrreiches letztes Selbstzeugnis entstanden. Am 10. Dezember 2021 ist Rühle 97-jährig gestorben.
Günther Rühle: Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch. Das Buch ist im Herbst 2021 im Alexander Verlag Berlin erschienen, es hat 232 Seiten und kostet 19,99 Euro.