Die Geschichte vom Aufstieg und Ende des jüdischen Kommerzialrats Dr. Isidor Gellert könnte alles Mögliche sein: eine Tragödie, ein Rührstück, ein Zeitdrama, eine erschütternde Farce oder (die Autorin ist die Großnichte des Protagonisten) eine traurige Familienbiografie. Bücher dieser Art, die vom Unglück jüdischer Vorfahren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berichten, sind inzwischen Legion, die Zahl der Bücher über von Nazis ermordete Tanten und Stiefväter ist unüberschaubar, auch an Darstellungen von sadistischen Nazi-Vätern und antisemitischen Großmüttern ist kein Mangel. Aber mit dieser Literatur – manchmal bewegend, manchmal reißerisch – hat das Buch „Isidor“ von Shelly Kupferberg nur wenig zu tun.

Formal hat sie eine Familiengeschichte geschrieben, aber tatsächlich erzählt sie die Geschichte der Auslöschung der jüdischen Kultur in Europa am Beispiel ihrer Familie. Die Auslöschung ist zugleich das brutale Ende einer trügerischen Lebenslüge: Dr. Isidor Gellert hatte sich aus einem verlorenen ärmlichen Winkel in Galizien emporgearbeitet in die feinsten Kreise Wiens, war promovierter Jurist, Multimillionär, Freund der Oper, teurer Bilder und schöner Frauen, immer ein Dandy und gelegentlich Hochstapler, der alle Süßigkeiten des Lebens in vollen Zügen genoss und fest daran glaubte, für immer und ewig vor allen Fährnissen des Lebens in Sicherheit zu sein. Mit Problemen kannte er sich aus, aber auf die Apokalypse war er – wie fast alle Juden – nicht vorbereitet, als sie nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 über ihn kam. Er wurde von den Nazis nicht ermordet, aber er wurde ums Leben gebracht; sie brachten ihn um sein Vermögen, um seine Würde, schließlich um seinen Lebenswillen. Ehe er in die USA ausreisen konnte, starb er im November 1938 – tödlich erschöpft – in seinem Bett.

Der Hörfunk-Journalistin Shelly Kupferberg ist mit ihrem ersten Buch etwas Außerordentliches gelungen. Ihre Geschichte lebt natürlich auch von der Darstellung, aber vor allem lebt sie von den Dargestellten, denen Kupferbergs Interesse, ihre Zuneigung und Anteilnahme gilt. Sie verzichtet auf Effekte, sie schreibt im besten Sinn kunstlos, aber damit umso wirkungsvoller, in diesem Fall: erschütternd. In einem Interview hat Shelly Kupferberg gesagt, der Schreibprozess sei für sie „unglaublich beeindruckend und beglückend“ gewesen. Dasselbe gilt für den Prozess des Lesens der Geschichte. So traurig sie ist, so beglückend ist es auch, wie es der Autorin gelingt, die Leser sanft, aber sicher – sie hat wunderbar recherchiert – an die Hand zu nehmen und durch Isidors Wiener Zauberreich der 20er-Jahre, durch die Hölle des Nationalsozialismus und schließlich in die Jüdische Abteilung des Zentralfriedhofs zu führen. Wem sie dort, am Grab Isidors, begegnet, soll hier nicht verraten werden. Aber wer die wenigen Zeilen liest, in denen Kupferberg ganz am Ende die Begegnung beschreibt, wird mit einem Trost belohnt: Wo so lange mit so viel Empathie geschrieben wird, ist Hoffnung vielleicht doch nicht nur ein Wort.

Shelly Kupferberg: Isidor – Ein jüdisches Leben. Das Buch hat 256 Seiten, es ist bei Diogenes erschienen und kostet 24 Euro.

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