Ich muss gestehen, dass ich dieses Buch bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren nach einem kurzen ersten Blick erst einmal weggelegt und ins Bücherregal verräumt habe, dorthin, wo bei mir die Bücher über Migration und Integration, über rassistische Sprache und Ausländerhass stehen. Der etwas hochtrabende Titel („Sprache und Sein“), der ein ansprüchliches philosophisches Traktat vermuten ließ, animierte mich nicht besonders. „Wenn Du mal viel Zeit hast, Prantl“, war mein stummer Kommentar. Das war ein Fehler. Das Lesen lohnt sich auch dann, wenn man nicht viel Zeit hat. Das Buch ist mir vor Kurzem, bei einer Regal-Recherche über die verrohte Sprache im Netz wieder in die Hand gekommen. Ich habe es gelesen; und es war ein Erlebnis.

Die Autorin, eine Politikwissenschaftlerin und Bloggerin, 33 Jahre alt, berichtet von ihren Erfahrungen als mehrsprachige Muslimin, erzählt von Kategorisierungen und Beleidigungen und davon, wie oft sie gefragt wird, warum sie Kopftuch trägt: „Dann denke ich mir: da ist so viel im Hintergrund … da steht ein Prozess, ein Leben dahinter. Wie willst Du das verstehen?“ Und beim Lesen hat man durchaus das Gefühl, dass sie ihre Leserinnen und Leser verstehen lassen will. Eine junge, selbstbewusste und verletzte, eine moderne muslimische Frau gibt Einblick in ihre Gedankenwelt und ihre Erfahrungen. Die Individualität der Frauen unter dem Kopftuch liegt ihr am Herzen. Einige Male zitiert Gümüşay den Religionsphilosophen Martin Buber und seine Schrift „Ich und Du“. Und es ist bisweilen, als wollte Gümüşay einem das „Du“ anbieten. Mit besonderer Spannung habe ich das Buch da gelesen, wo es um die Schwierigkeiten geht, Religiosität und Spiritualität in säkulare Sprache zu fassen. Gümüsay erinnert sich an die ersten Talkshows über den Islam: „Jedes Mal, wenn dort ein Imam auftrat, musste ich wegschauen, weil ich nicht mit ansehen konnte, wie ein Mensch, der in den muslimischen Gemeinschaften viel Ansehen genoss, vorgeführt, belächelt, erniedrigt wurde.“

Die Kritik wirft der Autorin vor, sie versuche „die deutsche Sprache als Waffe der Diskriminierung von Muslimen zu entlarven“. Das stimmt nicht. Gümüşay beschreibt, was ist – und wie sie dieses Ist erlebt. Das ist, wie gesagt, ein Erlebnis.

Kübra Gümüşay, Sprache und Sein. Das Buch ist 2020 erschienen bei Hanser Berlin. Es hat 207 Seiten und kostet 18 Euro.

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