Es ist ein dickes, es ist ein sehr dickes Buch. Es ist ein Buch, das man nicht unbedingt von der ersten bis zur letzten Zeile lesen muss. Es genügt auch, wenigstens einige der Lebensgeschichten zu lesen, die dieses Buch erzählt. Es sind die Geschichten von Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind; es sind Geschichten darüber, warum sie geflohen sind und wie es ihnen dabei ergangen ist; es sind Geschichten, die Schicksale entfalten, es sind Geschichten, die ans Herz greifen; es sind Geschichten, die zeigen, dass die Zehntausende, die auf der Flucht gestorben, die im Mittelmeer ertrunken sind, ihre Geschichte haben, dass sie nicht Nummern waren, sondern Menschen. Sie bleiben nicht namenlos, das Buch bringt ihre unantastbare Würde ans Licht. Da ist, zum Beispiel, die Geschichte von der eigenwilligen und klugen Melike, einem kurdischen Mädchen, 15 Jahre alt, die zusammen mit der Mutter und dem Bruder ein Leben in Angst hinter sich lassen und ein neues Leben in Deutschland finden wollte; die Visa-Anträge in der deutschen Botschaft waren abgelehnt worden
Die Familie kratzte ihr Geld zusammen, die ersten Etappen der Flucht schafften sie auf eigene Faust. Dann schlossen sie sich einer kleinen Gruppe kurdischer Flüchtlinge an, Schlepper versprachen, sie nach Deutschland zu bringen. Am 23. Mai nach Mitternacht bestiegen sie heimlich einen Güterzug, versteckten sich in einem Waggon, der Ersatzteile für Autos transportierte. Das Buch schildert, wie es dann weiterging: „Um 13.30 fährt der Zug im Bahnhof Trudering bei München ein. Die Flüchtlinge beschließen, hier abzusteigen; die bayerische Hauptstadt ist nah, es sollte der entscheidende Sprung in die Freiheit und in ein neues Leben sein. Melikes Mutter steht bereits auf deutschem Boden und schaut hinaus zu ihren Kindern, die ihr folgen. Über ihnen verläuft Starkstrom. Niemand greift an die Leitung, doch plötzlich fängt es in Strömen an zu regnen. Das Wasser wird zur tödlichen Gefahr: 15 000 Volt aus der Bahnoberleitung werden von einem heftigen Regenguss geleitet und fahren in die Körper der Absteigenden hinein. Noch bevor Melike ihre Fuß aufsetzen kann, wird sie erfasst. Sie hält ihren Bruder an der Hand. Die Mutter sieht die Haare ihres Sohnes in Flammen aufgehen und schafft es, ihn wegzuziehen; seine Hand ist schwer verbrannt …“. Melike wird auf die Geleise geschleudert. In der Klinik wird sie ins künstliche Koma versetzt. Sie ist nicht mehr aufgewacht. Sie starb am 8. Juni.
Tuckermann / Kristina Milz (Hrsg): Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste. Das Buch ist soeben, am 20. Juni, zum Weltflüchtlingstag, im Hirnkost-Verlag in einer stark erweiterten Neuauflage als Hardcover erschienen. Es hat 865 Seiten und kostet 20 Euro.