Jürgen Wiebicke ist Moderator des Philosophischen Radios bei WDR 5. In den letzten Monaten des Lebens seiner schwer krebskranken Mutter saß er mit einer Kladde bei ihr, hat zugehört und notiert. Sie, Jahrgang 1930, erzählte ganz viel von ihrer Kindheit und Jugend in der Nazi- und der Nachkriegszeit in Köln-Brück – „als ob danach nichts wirklich Wichtiges mehr passiert sei“, wie ihr Sohn schreibt: Puzzle-Stücke aus dem NS-Alltag. Strammstehen mit nackten Füßen im Schnee beim Hitlerjugend-Appell. Briefeschreiben an die Frontsoldaten. Die drangsalierte jüdische Nachbarsfamilie Lippert. Schwesternhelferin am Kölner Hauptbahnhof, Wundversorgung bei schwerstverletzten Kriegsheimkehrern.

Wiebicke lässt sich auf die Gedankensprünge der Mutter ein, auch auf ihr Sinnieren über die Jugend von heute. Er webt die Gesprächsnotizen, die Erinnerungen an Gespräche mit seinem Vater zusammen zu einem liebevoll-nachdenklichen Text. Es gibt keine Kapitel und wenig Absätze; die Eindrücke, Gedanken und Geschehnisse fließen. Wiebicke nennt es: Eine Arbeit an seiner persönlichen Archäologie. Er sinniert über das Nazigift, darüber, wie es fortwirkt bei denen, die im Nationalsozialismus jung waren – in der Erziehung ihrer Kinder, am Abendbrottisch. Staunend erlebt er seine Mutter als zornig, als sie ihm vom Ende des Krieges erzählt. Und es erschreckt ihn, dass nach so langer Zeit bei ihr die Gefühle der damals 15-Jährigen und das alte Freund-Feind-Schema aufbrechen: „Ich hatte so eine Wut auf die Amerikaner. Die Amis hatten schicke Bekleidung und alles dabei, was sie brauchten. Brotbeutel, Dosen und kleine Öfchen. Die haben sich überall hingesetzt und ihre Dosen warm gemacht. Und wie waren dagegen die deutschen Landser ausgerüstet. Erbärmlich.“

Wiebicke schreibt von der Verschleppung seines Großvaters nach Sibirien, vom Morphium-süchtigen Engelmacher in Brück, zu dem seine Mutter zwei Mal ging; von der beginnenden Liebe seiner Eltern beim Suchen von Kaninchenfutter. Er schreibt vom Schweigen und vom Schreien einer Generation und von seinen Gedanken zum Altern und zur Sterbehilfe. Es ist der Versuch eines Generationengesprächs. Wiebicke ist ein dichtes familiengeschichtliches Gewebe gelungen. Und wer wissen möchte, warum dieses Buch „Sieben Heringe“ heißt, der sollte es einfach lesen. Es ist eine der lustig-anrührenden Geschichten in diesem Buch.

Jürgen Wiebicke: Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben. Das Buch hat 256 Seiten, es ist 2021 bei Kiepenheuer&Witsch erschienen und kostet 20 Euro.

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