Der Held dieses grandiosen Buches ist nicht der Protagonist, sondern der Autor. Der Protagonist: Herbert Engelsing. Er gehörte zum Widerstandskreis um den Luftwaffenleutnant Harro Schulze-Boysen, den Abwehr und Gestapo „Rote Kapelle“ nannten, um ihn als sowjetischen Agentenring zu diffamieren. Und er war Herstellungsleiter des Tobis-Filmkonzerns, also ein Großer im NS-Filmgeschäft, in dessen Abteilung bis 1945 rund 40 Spielfilme entstanden (unter anderem „Der Mustergatte“ mit Heinz Rühmann), die den Glauben der Bevölkerung an den „Endsieg“ befeuern sollten. Er hat sich für die „nicht-arische Familie“ seiner Frau eingesetzt, war eine wichtige Kontaktperson der „Roten Kapelle“ und zugleich ein Propagandist des NS-Regimes. Sein Leben war ein Doppelleben – aber wer war Herbert Engelsing? Diese Frage versucht der Held des soeben erschienenen Buches „Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet“ zu beantworten: Tobias Engelsing, Autor und Herbert Engelsings Sohn aus zweiter Ehe.
Warum ist Tobias Engelsing, Historiker und Direktor der Städtischen Museen Konstanz, ein Held? Es gehört Mut dazu, Zweifeln an der überlieferten Biografie des Vaters mit allen Konsequenzen auf den Grund zu gehen. Tobias Engelsing hatte den Mut, die Konsequenzen hat er in Kauf genommen. Herbert Engelsing starb, als sein Sohn zwei Jahre alt war. Das Bild von sich, das er ihm hinterließ, zeigt nur den Mann der Opposition. Aber das Bild hatte Risse bekommen, als nach der Vereinigung 1990 Aktenbestände des Tobis-Konzerns aus der DDR auftauchten, die Tobias Engelsings Blick „auf die tiefe ideologische Durchdringung der gesamten deutschen Filmproduktion nach 1933 lenkten“.
Es begann eine Recherche, deren atemberaubende Ergebnisse Tobias Engelsing in seinem Buch verarbeitet hat. Er zeigt seinen Vater, der, vielfältig vernetzt, der Widerstandsgruppe weitere Oppositionelle zuführt, der seine Kontakte zu Kulturfunktionären und Künstlern nutzt, um die Gruppe vor drohenden Repressionsmaßnahmen zu warnen, der sogar Bedrängten Unterschlupf gewährt. Und er zeigt seinen Vater bei der Arbeit mit Nazi-Regisseuren wie Hans Steinhoff und kompromisslosen Opportunisten wie Veit Harlan. Wie sein Vater diesen Widerspruch verkraftet hat, lässt sich nur erahnen. In der Nachkriegsgesellschaft wurde er als Kopf der vermeintlich kommunistischen Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ verhetzt, die USA verweigerten ihm eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Darüber zerbrach die Ehe mit seiner in die Vereinigten Staaten emigrierten Frau. Herbert Engelsing starb, nach zwei Schlaganfällen, 1961 mit 57 Jahren.
Tobias Engelsing sagt, er habe die Lebensgeschichte seines Vaters geschrieben, um sichtbar zu machen, wie eng Mut zum abweichenden Verhalten und Opportunismus in unlösbarem Widerspruch verflochten sein können. Das Bild, das er den Lesern von seinem Vater zeigt, ist beeindruckend schön – weil es wahrhaftig ist.
Tobias Engelsing: Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet. Das Buch hat 447 Seiten, es ist 2022 im Propyläen-Verlag erschienen und kostet 25 Euro.