Wer der Illusion nachhängt, dass es einen guten Krieg gibt – der lese dieses Buch. Wer glaubt, es könne in einem Krieg irgendwie gelingen, unschuldig zu bleiben, weil man doch so gute Absichten habe – der lese es auch. Es ist ein grauenvolles Buch, es ist ein Dokument der erbarmungslosen Ernüchterung: Das Buch heißt „Vergeltung“ es ist nicht neu, es stammt aus dem Jahr 1956 und ist ziemlich vergessen. Damals, als es erschien, schoben es die Kritiker angewidert weg; das schonungslos grandiose Protokoll des Grauens passte nicht mehr in die Zeit der Remilitarisierung und Wiederbewaffnung. Von „Schreckensmalerei“ war die Rede, von „abscheulicher Perversität“. Es war nicht mehr erwünscht, militärische Konflikte per se als prekär darzustellen. Eine Buchbesprechung damals sagte es ganz deutlich: Zehn Jahre nach dem Krieg lehne der Leser Darstellungen ab, „die jeden positiv gerichteten metaphysischen Hintergrund und Ausblick vermissen lassen“. Einer der ganz wenigen Literaturkritiker, der den Roman schon in den fünfziger Jahren lobte, war Günther Rühle, der spätere FAZ-Feuilletonchef, der vor kurzem im Alter von 96 Jahren verstorben ist. Er empfahl das Buch als „Pflichtlektüre“. Das gilt heute, in den Zeiten des Ukraine-Kriegs, wieder. Das Buch ist Pflichtlektüre.
Bei mir stand es viele Jahre lang, den Umschlag nach vorn, im Regal. Ich hatte es nach dem Lesen so hingestellt, zur Mahnung quasi. Jetzt, in den Ukraine-Debatten, habe ich es wieder zur Hand genommen: Es ist ein Luftkriegsroman, in dem sich das Geschehen auf schreckliche 69 Minuten konzentriert; eine lange Stunde an einem Julimittag 1944, die Stunde, die das Bombardement einer Großstadt währt: Luftkampf, Vergewaltigung, Sadismus. Wütende Verzweiflung, Reste von Anstand, Inferno. Einer der amerikanischen Flieger, Sergeant Jonathan Strenehen, fällt nach seiner geglückten Landung in die Hände einiger Deutscher, die ihn grausam misshandeln, obwohl er zuvor mit Absicht das Zielgerät seines Bombers auf einen Friedhof ausgerichtet hatte, um die Zivilbevölkerung zu verschonen. Ein Lesebeispiel, Seite 198: „Steine schossen zum Himmel wie Raketen. Die Holzkreuze auf dem Friedhof waren bereits verbrannt. Im zertrümmerten Wartesaal des Bahnhofs krochen Kinder über Steintreppen. Bomben rissen in einer Kirche Christus vom Kreuz, im Keller des Entbindungsheimes den Säuglingen die weiche Haut vom Kopf, irgendwo einer Frau die gefalteten Hände auseinander und im Freigehege des Tierparks Affen von den Bäumen, in die sie sich geflüchtet hatten … Der Fortschritt vernichtete Vergangenheit und Zukunft.“
Der Autor heißt Gert Ledig (1921 – 1999), von ihm stammen noch zwei andere Kriegsromane – „Stalinorgel“ (1955) spielt an der Ostfront, „Faustrecht“ (1957) spielt 1946 in München. Über seinen Roman „Vergeltung“ schrieb Gert Ledig 1957 an seinen Verleger: „Zumindest ist eine Neuauflage nach dem 3. Weltkrieg gesichert“. Lesen wir den Roman, auf dass es diesen Krieg nicht gibt.
Gert Ledig: Vergeltung. Die neueste Ausgabe ist bei Suhrkamp BasisBibliothek zu haben, als Taschenbuch für 8,50 Euro.