„Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am wenigsten sagen können, wie er ist. Wir lieben ihn einfach.“ Was Max Frisch über Menschen sagt, kann man auch über manche Bücher sagen. Man mag sie nicht beschreiben, weil ein unbeschreiblicher Zauber von ihnen ausgeht, und den will man nicht verraten. Eben dies gilt für das Buch, das ich direkt ins Herz geschlossen habe und das ich Ihnen heute empfehle: „Ein Notizbuch“ heißt Hubert Mingarellis kleiner Roman, der selbst kaum größer ist als ein solches und trotzdem ein großartiges Buch.

Worum es geht: Vier junge Soldaten der Roten Armee finden sich während des Bürgerkrieges zusammen, inmitten von Todesangst und Alpträumen, Brutalität, Hunger und Kälte. „Im Morgengrauen machten wir uns auf den Weg zum Regiment, und während wir uns der Straße näherten, meinte Pavel: ‚Wir bleiben zusammen.‘ Ich hab nur gesagt: ‚Ja.‘ Die Flucht vor den Rumänen ging weiter.“ So beginnt Benjas Freundschaft mit Pavel, und mehr ist nicht nötig, um vom Beginn eines Wunders zu erzählen, das einen in der Katastrophe überleben lässt. Kjabin, ein grobschlächtiger, gutmütiger Usbeke, und der schüchterne, sanftmütige Sifra vervollständigen das unzertrennliche Quartett der jungen Männer. Sie schaffen es, den mörderischen Winter zu überleben, und finden, als der Krieg eine Pause macht, einen Weiher, der ihnen zum Paradies wird. Sie hüten seine Existenz als kostbares Geheimnis. Würfelspielen, rauchen und baden, hinter Enten herrennen, das Gewehr auseinander- und blind wieder zusammenbauen, die staubigen Mäntel waschen und ihre neue Reinheit genießen, ein Pferd klauen, einen Fisch fangen und ihn braten, so fühlt sich für sie ungetrübtes, unvergleichliches Glück an.

Wie bloß kann man das festhalten? Ein junger Kerl, Evdokim, eigentlich ein Kind noch, kommt ihnen gerade recht. Im Gegensatz zu ihnen kann Evdokim schreiben, und so bestimmen sie ihn zu ihrem Chronisten: „Schreib auf, dass wir traurig sind, weil wir hier schöne Zeiten verbracht haben, verdammt schöne Zeiten, und wir wissen, dass es damit vorbei ist, wir haben keine Ahnung, wo wir hingehen werden, wir werden keine schönen Zeiten mehr haben, die liegen jetzt hinter uns, verstehst du, und das musst du unbedingt aufschreiben,“ schärfen sie ihm ein und der kleine Chronist füllt Seite um Seite in seinem Notizbuch. „Schreib! Schreib alles auf! Vergiss Kjabins Fisch nicht.“ In dieses Büchlein schaut Benja am Ende des Romans und traut seinen Augen kaum.

Der Autor des Romans, Hubert Mingarelli, ist ein Meister der wortkargen, lakonische Poesie, die ohne Pathos und mit einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht, mitten ins Herz trifft. Er ist 2020 verstorben. Sein Roman ist 2003 unter dem Titel „Quatre soldats“ erschienen und kürzlich ins Deutsche übersetzt worden. Ich empfehle Ihnen dieses Buch, denke dabei auch an die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze und hoffe, dass es keinen Krieg gibt. Das Buch führt die Verlierer in solchen Kriegen vor Augen.

Hubert Mingarelli: Ein Notizbuch. Der Roman ist im Herbst 2021 im Verlag ars vivendi erschienen, er hat 175 Seiten und kostet 18 Euro.

 

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