Guten Tag,
das Risiko eines normalen Mörders, entdeckt und verurteilt zu werden, ist groß. Die Aufklärungsquote liegt bei mehr als neunzig Prozent. Das Risiko eines Völkermörders dagegen, sich seiner Verbrechen wegen verantworten zu müssen, war Jahrtausende lang gleich null. Offenbar schwand mit der Zahl der Verbrechen auch ihr strafrechtlicher Gehalt: Ein Mord führte in die Zelle; zehntausend Morde aber führten in den internationalen Konferenzsaal.
Ein weltgeschichtlicher Tag
So war das – bis Den Haag. Am kommenden Freitag ist der „Internationale Tag der Gerechtigkeit“. Er ist von den Vereinten Nationen vor zehn Jahren ausgerufen worden und soll an den 17. Juli 1998 erinnern. Das war ein großer, das war ein weltgeschichtlicher Tag: An diesem Tag wurde, nach zähen und langwierigen Verhandlungen, in Rom das Statut für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angenommen; Rom-Statut wird es genannt, auch IStGH-Statut. Dieser Internationale Strafgerichtshof in Den Haag war und ist der Versuch, einer uralten schlechten Tradition dauerhaft ein Ende zu bereiten. Diese Tradition sah so aus: Gegen einen einfachen Mörder verhandelte der Richter. Mit einem zehntausendfachen Mörder verhandelten die Staatsmänner.
Der Internationale Strafgerichtshof ist ein ständiger Gerichtshof – anders als die Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, anders als die durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats ad hoc etablierten Tribunale ICTY und ICTR. ICTY ist das Kürzel für den Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien („International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia“), ICTR das Kürzel des Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda („International Criminal Tribunal for Rwanda“). Das Rom-Statut schuf kein solches internationales Sondergericht, sondern einen ständigen internationalen Strafgerichtshof.
Eine bemerkenswert ungewöhnliche Allianz aus China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und den USA
160 Staaten, 17 zwischenstaatliche Organisationen und 250 Nichtregierungsorganisationen waren an der Vorbereitung, an der diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz in Rom beteiligt. Es wurde der Grundstein gelegt für das erste unabhängige ständige Strafgericht der internationalen Staatengemeinschaft. 120 Staaten stimmten für den Text, sieben dagegen, 21 Staaten enthielten sich. Abgelehnt wurde das Statut von einer bemerkenswert ungewöhnlichen Allianz, bestehend aus China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und den USA. Von Anfang an gab es eine sehr feindselige Kritik am Strafgerichtshof; bei dieser Kritik taten und tun sich die Ablehnungs-Staaten des Jahres 1998 besonders hervor.
Trumps Tiraden
Die Chefanklägerin des Gerichts, die Gambierin Fatou Bensouda, hat seit einiger Zeit die Gewalt in Afghanistan ins Visier genommen; sie erhielt von der Berufungskammer des Gerichts das Mandat, die Kriegsverbrechen nicht nur der Taliban, sondern auch der afghanischen und der US-amerikanischen Streitkräfte und die des Geheimdienstes CIA zu untersuchen. 2019 gab sie bekannt, genügend Beweise dafür zu haben, dass Angehörige des US-Militärs gefoltert und vergewaltigt haben. Die Regierung Trump reagierte empört und verhängte Sanktionen gegen Bedienstete des Strafgerichtshofs. Ihnen wird die Einreise in die USA verweigert, ihr Vermögen in den USA wird eingefroren.
Die Empörung hat einen besonderen Hintergrund: Es wäre das erste Mal, dass US-Bürger für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen würden. Die USA zählen allerdings nicht zu den Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs. Selbst bei einem Schuldspruch hätte der keine Mittel, die Täter zu verhaften. Gleichwohl betrachtet US-Außenminister Mike Pompeo jegliche Den Haager Ermittlungsarbeit als Übergriff eines „korrupten Gerichts“. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu assistiert ihm beflissen und bezeichnet die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs als „strategische Bedrohung Israels“.
Warum internationale Richter ein dickes Fell brauchen
Das ist eine zynische Kritik – die freilich die Kritisierten nicht überrascht. Der Internationale Strafgerichtshof „soll einen Kulturwandel herbeiführen und der Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechen ein Ende setzen. (. . .) Niemand kann ernsthaft erwarten, dass das ohne Widerstände und Rückschläge möglich sein wird.“ – So sagt es Bertram Schmitt, der deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof. Man müsse sich als Richter dort „ein sehr dickes Fell zulegen“, gestand er 2016 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ein dickes Fell zulegen: So ein Satz nimmt dem „Internationalen Tag der Gerechtigkeit“ einiges von seiner Pompösität.
Justizpaläste – wenn Steine reden könnten!
Internationaler Tag der Gerechtigkeit: Zu einem Tag mit einem solchen Namen hat jeder so seine eigenen Assoziationen. Mir fallen da die Häuser ein, die Justiz-Palast heißen und aus der Zeit des Obrigkeitsstaates stammen, aus der Zeit also, in der die Staatsgewalt auf Beeindruckungsarchitektur Wert legte. Der Münchner Justizpalast gehört dazu – ein neobarockes, monumentales Gerichts- und Verwaltungsgebäude in München, das Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seiner offenen und transparenten Architektur ist da ein schöner Kontrast, der Internationale Strafgerichtshof auch: Er sitzt, nach 13 Jahren provisorischer Unterbringung, in einem großflächig verglasten Gebäudekomplex.
Bei einem mächtigen Gerichts-Protzbau wie dem Münchner Justizpalast kommt mir beim Vorbeifahren der Gedanke in den Sinn: Wenn Steine reden könnten! Wenn Steine reden könnten. Die Steine würden klagen darüber, wie hier, hier in diesem mächtigen Haus, Präsidenten und Richter des Oberlandesgerichts München dabei halfen, das verbrecherische NS-Regime zu etablieren, wie sie dann die Herrschaft des Unrechts festigten, wie sie sich brüsteten, das Recht in Unrecht zu verwandeln – und wie sie ihr juristisches Handwerk missbrauchten, das zu bewerkstelligen und zu bemänteln.
Braune Teppiche ausgerollt
Die Nationalsozialisten sind ja nicht heimlich hineingeschlichen in den Justizpalast, sie haben die Justiz nicht undercover infiltriert. Das Oberlandesgericht München hat den Nazis die Tore aufgerissen, es hat bereitwilligst die braunen Teppiche ausgerollt – und es hat 1933 vor einem der fanatischsten Nationalsozialisten, dem bayerischen NS-Justizminister Hans Frank, gebuckelt und scharwenzelt. Dieser bayerische NS-Justizminister, ein Großverbrecher der Weltgeschichte, wurde dann 1939 der mörderische NS-Generalgouverneur in Polen und organisierte dort den Holocaust.
Am Oberlandesgericht München zwischen 1933 und 1945 gab es (wie Hannes Ludyga in seinem Buch dieses Titels aus dem Jahr 2012 über dieses Gericht feststellt), „keine größere Gruppe von Richtern, die dem Nationalsozialismus entgegentrat, mit den Nationalsozialisten in einen grundsätzlichen Konflikt geriet oder einem weiteren Ausbruch des Antisemitismus Widerstand entgegensetzte“. Das Oberlandesgericht München war ein den Nationalsozialisten willfähriges Obergericht. Aber es gab an diesem Gericht, und das muss am „Tag der Gerechtigkeit“ gesagt und gerühmt und gepriesen werden, einen Richter namens Johann David Sauerländer: Er ist ein viel zu wenig bekanntes Vorbild … an das man am „Internationalen Tag der Gerechtigkeit“ erinnern darf, erinnern muss.
Ein Richter-Vorbild
Warum? Richter Sauerländer sagte und schrieb Sätze nieder, die ein Denkmal verdienen: Er verweigerte die Zusammenarbeit „mit Männern, die mit der einen Hand Gesetze schrieben und mit der anderen Schandtaten begingen“, und er schrieb 1934, als der Staatsrechtler Carl Schmitt den wahnwitzigen Aufsatz „Der Führer schützte das Recht“ verfasst hatte, den Anti-Schmitt. Die Nazis hatten damals die Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm, des ehemaligen Reichskanzlers Kurt von Schleicher und anderer mutmaßlicher Opponenten und Rivalen mit einem „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ und einem einzigen Artikel gerechtfertigt: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30.Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens“.
Dagegen also schrieb Johann David Sauerländer eine Abhandlung, die, wäre sie – wie von ihm geplant – als Plenarbeschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts veröffentlicht worden, ruhmreich in die Rechtsgeschichte eingegangen wäre. Sie endet wie folgt: „Von einem Arzt, der in Pestzeiten seine Dienste einstellt und das Weite sucht, ist nicht viel zu halten. Wir Richter (…), die wir unser Leben im Dienst des Rechts verbracht haben und in Ehren grau geworden sind, wir wollen nicht einem solchen Arzte gleichen; wir wollen das Recht in der Stunde der höchsten Gefahr nicht im Stich lassen. Den Tod und die irdischen Drangsale, die man über uns verhängen mag, fürchten wir nicht; wohl aber fürchten wir die Schande und das Grauen, darein wir das deutsche Volk versinken sehen. Darum haben wir uns zusammengefunden und erklären, unseres Richtereids eingedenk, feierlich vor Gott und der Welt: Wenn wirklich die von der Reichsregierung verkündeten Grundsätze von nun an deutsches Recht sein sollen, so haben wir mit diesem Rechte nichts mehr gemein. Wir sind Richter, nicht Götzendiener.“
Richter, nicht Götzendiener
Sauerländer wurde nach 1945 nicht geehrt, nicht in ein hohes Amt gehoben. Er bemühte sich vergeblich um eine Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst in Bayern. In meiner gesamten Rechtsausbildung habe ich von diesem Mann leider nichts gehört. Er hat auch nicht in Bayern Anerkennung erfahren, sondern in Frankfurt. Die dortige Universität verlieh ihm 1955 die Ehrendoktorwürde.
„Wir sind Richter, nicht Götzendiener“: Das ist ein Satz, der zum Internationalen Tag der Gerechtigkeit passt, überall in der Welt. Es ist ein Satz für Richterinnen und Richter, die sich der Gerechtigkeit verschreiben.
Erholsame Sommerwochen wünscht Ihnen
Ihr
Heribert Prantl
Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung