Guten Tag,

als die Maschine des Bundeskanzlers Willy Brandt auf dem Militärflugplatz in Warschau landete, standen am Rande des Rollfelds 376 Journalisten. Noch nie zuvor in Polen hatte ein politisches Ereignis annähernd so viele Journalisten auf die Beine gebracht. Zählte man die Ehrengäste, die Diplomaten, die Funktionäre und die Geheimpolizisten hinzu, waren mehr Leute anwesend, als der deutsch-polnische Vertrag Wörter hat: 435 Wörter…

Wandel durch Annäherung

So beschrieb damals Hans Ulrich Kempski, Chef-Reporter der Süddeutschen Zeitung, akribisch wie er in solchen Dingen war, den Auftakt des ersten Besuchs eines Regierungschefs der Bundesrepublik in Polen. Es war der 6. Dezember, der Nikolaustag des Jahres 1970. Willy Brandt, der einstige Widerstandskämpfer gegen Hitler, war seit einem guten Jahr Bundeskanzler. Er kam nach Polen, um den Warschauer Vertrag zu unterschreiben, beschimpft und angegiftet von der CDU/CSU-Opposition. Es ist nun fünfzig Jahre her. Es war einer der historischen Höhepunkte der neuen Ostpolitik, einer Politik, welcher Egon Bahr schon 1963 das Motto „Wandel durch Annäherung“ gegeben hatte. Egon Bahr war Brandts Vordenker und Staatssekretär.

„Nichts verspielt, was Hitler nicht schon verspielt hatte“

Kempski schrieb in der SZ: „Ausgehandelt in sechs Runden zäher Vorgespräche und dann von den Außenministern im November während einer elftägigen Konferenz, bei der es bisweilen auf Biegen und Brechen ging, endlich zu Papier gebracht, verspricht dieser Vertrag unter dem Zwang der Geschichte, dass die 102 958 Quadratkilometer umfassenden Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie endgültig als deutsches Staatsgebiet abgeschrieben werden.“ Der Fläche nach ging es um ein Viertel des alten Reichsgebiets: um Ostpreußen, Pommern, Schlesien, um Danzig, Stettin, Polen und Breslau, um die Hälfte des alten Preußen. Im Lager der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik rumorte es heftigst.

Brandt wusste freilich, und er sagte das auch in seiner Rede bei der Vertragsunterzeichnung: „Für viele meiner Landsleute, deren Familien im Osten gelebt haben, ist dies ein problemgeladener Tag. Manche empfinden es so, als ob jetzt der Verlust eintritt, den sie vor 25 Jahren erlitten haben.“ Aber man müsse die europäischen Realitäten anerkennen: „Mit diesem Vertrag wird nichts verspielt, was nicht Hitler schon verspielt hat.“

In der Fernsehansprache sagte Brandt es dann so: Der Vertrag „gibt nichts preis, was nicht längst verspielt worden ist. Verspielt nicht von uns, die wir in der Bundesrepublik Deutschland politische Verantwortung tragen und getragen haben. Sondern verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus.“

Eine Brücke schlagen

Der Warschauer Vertrag erkannte die deutsch-polnische Grenze an. Als „Verzichtspolitiker“ wurde Brandt deshalb von seinen politischen Gegnern verhöhnt. Der Verzicht galt aber nicht mehr Gebieten, die man de facto seit 25 Jahren nicht mehr besaß; er galt den Ansprüchen darauf, die jetzt nicht mehr aufrechterhalten wurden. Es gab in Deutschland deswegen Morddrohungen gegen Brandt und seinen FDP-Außenminister Walter Scheel. Der Vertrag sollte nach Brandts Worten einen Schlussstrich setzen unter die Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit und eine Brücke schlagen zwischen beiden Staaten und Völkern. Der Warschauer Vertrag war ein Markstein der neuen Ostpolitik.

Das Wagnis der Versöhnung: Der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag

„Wir haben uns nicht leichten Herzens hierzu entschieden, aber guten Gewissens“, sagte Brandt bei der Vertragsunterzeichnung. „Das Ja zu diesem Vertrag, zur Aussöhnung, zum Frieden ist ein Bekenntnis zur deutschen Gesamtgeschichte … Er bedeutet nicht, dass wir die Vertreibung nachträglich legitimieren.“ Aber Ressentiments würden nur den Respekt vor der Trauer um das Verlorene verletzen: „Niemand kann sich der Trauer entziehen. Uns schmerzt das Verlorene. Und das leidgeprüfte polnische Volk wird unseren Schmerz respektieren.“ Dem Warschauer Vertrag war der Moskauer Vertrag vorausgegangen, der im August 1970 im Katharinensaal des Kremls in Moskau geschlossen worden war. Beide Länder verpflichteten sich darin, den Entspannungsprozess zu fördern, damit sich die Lage in Europa normalisiert.

Es ist das Wagnis der Versöhnung, das in der zitierten Warschauer Rede schimmert. Die Rede und der Vertrag, dem diese Rede gilt, sind ein Beispiel für großen politischen Mut; es war ein kühnes und ein notwendiges Unterfangen. Die große Geste der Demut, die heute im Mittelpunkt der Erinnerung an Brandts Besuch in Warschau steht, der Kniefall am Denkmal des Warschauer Ghettos, spielte damals, im Dezember 1970, gar keine so gewichtige Rolle in den Berichten, Reportagen und Kommentaren der deutschen Medien über den Warschau-Besuch Willy Brandts.

Kniefall, kurz gefasst

In Hans Ulrich Kempskis Reportage auf der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung sind es auch nur wenige Zeilen. Erst schildert er, wie Brandt, um Polens gefallene Freiheitskämpfer zu ehren, am 7. Dezember den Tag mit einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten beginnt. Und dann: „Ein zweiter Kranz wird von Brandt wenig später vor dem Mahnmal im ehemaligen Ghetto niedergelegt. Dies zu tun, ist der ausdrückliche Wunsch des Bundeskanzlers gewesen. Ein Führer, der ihm erklären will, welche Leiden Polens Juden hier haben ertragen müssen, kommt mit seinem Vortrag nicht zum Schluss. Er verstummt, als er sieht, wie der Kanzler, von aufgewühlten Empfindungen überwältigt, niederkniet. Brandt braucht Sekunden, die den Zeugen endlos erscheinen, bis er wieder steht. Es sieht aus, als brauche er alle Kraft, um Tränen niederzukämpfen.“

„Den Völkern einen neuen Weg geöffnet“

Bundespräsident Richard von Weizsäcker ist es gewesen, der den Kniefall von Warschau 1989 in seiner Rede zum 75. Geburtstag von Willy Brandt weise interpretiert hat: „Ein tiefes Mitgefühl wurde zum Ausdruck eines Regierenden. Niemand hatte es erwartet. Keiner hat es vergessen. Es hat die Dinge verändert. Es hat den Völkern einen neuen Weg geöffnet.“

Der Graben zum Ostblock, den Brandt damals mit den Ostverträgen überwunden hat, war noch tiefer als die Gräben, die sich heute zu Moskau auftun. Brandt hat damals nicht das fehlende Vertrauen beklagt, er hat mit seiner Politik versucht, das gegenseitige Misstrauen zu überwinden und Vertrauen zu schaffen. Es fehlt heute ein Politiker seines Formats, diese Kühnheit zu wagen. In der Regierungserklärung von Willy Brandt vom Oktober 1969 steht der programmatische Satz: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein – nach innen und nach außen.“

Indes: Das gemeinsame europäische Haus sieht heute fast schon wieder so aus wie der Bahnhof von Bayerisch Eisenstein in den Zeiten des Kalten Krieges: Dort, an der tschechischen Grenze, an der Grenze zum damaligen Ostblock, ging eine Mauer quer durch die Bahnhofshalle. Das Klo war im Osten. 1991 öffnete Helmut Kohl den Grenzbahnhof wieder. Es ist Zeit für die Neuöffnung Europas. Russland ist ein Teil davon, so groß die Vorwürfe gegen Moskau heute auch sind.

„Nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht haben“

Vor sechs Jahren haben zahlreiche erfahrene Alt-Politiker – von Roman Herzog bis Hans-Jochen Vogel – einen Aufruf veröffentlicht, in dem es hieß: „Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen.“ Der Aufruf war Ausdruck einer Befürchtung, die auch Helmut Kohl in seinem letzten Buch plagte: „Im Ergebnis müssen der Westen genauso wie Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht haben.“

Bei aller berechtigten Empörung über staatskriminelle Aktionen Putins: Russland ist ein Teil Europas wie Polen. Es wäre gut, wenn man das auch in der Art des Umgehens miteinander wieder spüren würde.

Das wünscht sich, zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am 7. Dezember

Ihr

Heribert Prantl

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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