Die jüngere Geschichte der SPD ist wie die Geschichte vom Suppenkaspar. Die geht bekanntlich so: „Der Kaspar, der war kerngesund, ein dicker Bub und kugelrund; er hatte Backen rot und frisch.“ Aber dann aß er seine Suppe nicht mehr: „Ich esse meine Suppe nicht. Nein, meine Suppe ess ich nicht.“ Das Gedicht geht bekanntlich tragisch aus: „Am vierten Tage endlich gar / Der Kaspar wie ein Fädchen war / Er wog vielleicht ein halbes Lot – Und war am fünften Tage tot.“

Von Heribert Prantl

Am Montag stellt der Parteivorstand die Weichen

Tot ist die SPD nicht, aber es geht ihr miserabel. Nun kann man, wenn man über die SPD als Suppenkaspar nachdenkt, lange darüber sinnieren, was die Suppe der SPD ist. Zu dieser Frage gibt es Dutzende, nein Hunderte von Papieren. Nach jeder verlorenen Wahl wurden welche geschrieben. Aber von Papieren kann man nicht leben; man muss das, was in den Papieren steht, leben; das ist der SPD schon lange nicht mehr gelungen. Man weiß nicht mehr so genau, wofür und wovon sie eigentlich lebt. Das zu beschreiben und der Miserabilität zu entkommen: Es wird die Aufgabe der kommenden Wochen und Monate sein. Wie das gehen könnte? Darüber berät der Parteivorstand am Montag. Es ist dies keine Krisenberatung, wie es schon so viele gegeben hat. Es ist eine Krisenberatung in einer Situation, die keine bloße Krise ist, sondern eine existentielle Bedrohung.

Wiederbelebungsaktion und Projekt Doppelspitze

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, in welchem Verfahren eine neue SPD-Chefin oder ein neuer SPD-Chef gewählt werden soll. Es wird, daran gibt es keinen Zweifel, zu einem Mitgliederentscheid kommen. Und vieles spricht dafür, dass es eine Doppelspitze sein soll, die die Partei wieder in eine vielleicht bessere Zukunft führt – eine Frau, ein Mann. Wenn die Partei es klug anstellt, wird die Prozedur, in der man zu dieser Doppelspitze kommt, zu einer Wiederbelebungsaktion und zu einer Demonstration, dass die SPD noch über Reserven und über ein Personal verfügt, das neugierig macht.

Wenn es gut geht, wird der Mitgliederentscheid Namen ins politische Spiel bringen, die auf Bundesebene heute noch kaum jemand kennt. Wenn es gut geht, kriegt die SPD nicht einfach nur, wie schon so oft in den vergangenen 30 Jahren, eine neue Parteispitze; wenn es wirklich gut geht, wird eine völlig neue sozialdemokratische Führungsgeneration sichtbar nach vorne geschoben. Wenn es gut geht, geschieht mit der SPD etwas, das der CDU vor 20 Jahren im Kohl-&-Kiep-Skandal widerfahren ist. Dieser Skandal hat funktioniert wie eine Zeitmaschine: Ende November 1999 ist die CDU torkelnd und mit unbekanntem Ziel eingestiegen, sie ist gerüttelt und geschüttelt worden, sie hat Todesängste ausgestanden, sie wurde lädiert und ramponiert; und nicht alle Insassen haben die Tortur überlebt. Aber nach vier Monaten hatte die CDU zehn Jahre übersprungen. Ohne den Skandal hätte die Partei sich noch lange damit geplagt, sich aus dem Patriarchat herauszuarbeiten. Nun hatte sie auf einmal eine Vorsitzende.

Die Talente der zweiten und dritten Reihe

Die SPD hat eine Chance: Sie kann zeigen, wie viele Talente in ihrer zweiten und dritten Reihe stehen. Sie kann auf diese Weise Neugier wecken. Es genügt aber dann nicht, wenn zum Mitgliederentscheid zwei oder drei Kandidaten oder Kandidatinnen antreten; es müssten, im Idealfall, drei- oder viermal so viel sein – die sich dann womöglich nicht als Einzelne, sondern als Duo bewerben. Der Mitgliederentscheid würde zu einem großen Paar-Schaulaufen mit Oberbürgermeistern und Fraktionsvorsitzenden aus den Landtagen.

Wenn die SPD das beherzt angeht, kann das auch die bevorstehenden Wahlkämpfe im Osten prägen. Beherzt heißt: Man darf sich nicht ewig Zeit lassen, man darf den Sommer nicht schleifen lassen. Die Bewerbungsphase müsste im Juli, die Abstimmungsphase im August stattfinden; und der Parteitag, dem die Ergebnisse des Mitgliederentscheids vorgelegt werden, müsste deutlich vorgezogen werden; jetzt ist er erst für Dezember geplant.

Wo ist der Mumm? Wo ist die Traute? Wo ist die Radikalität?

Die SPD sitzt in 16 Landtagen, sie hat arbeitsfähige Fraktionen, sieben Regierungschefs, sie ist beteiligt an elf Landesregierungen, sie hat 438 000 Mitglieder. Das ist viel weniger als früher, aber immer noch ziemlich viel. Aber sie hat den Mumm noch nicht und die Traute und die Radikalität, die sie in ihrer Situation bräuchte. Symptomatisch für diesen fehlenden Mumm waren die reflexartigen Absagen der bisher führenden Genossinnen und Genossen, als Parteichefin oder Parteichef anzutreten. Alle haben davon geredet, dass sie stolz sind auf die SPD – aber kaum einer von den angeblich so stolzen Sozialdemokraten will Verantwortung übernehmen. Es mag bei Einzelnen gute Gründe geben; insgesamt bot sich bisher ein Bild der Feigheit. Wie soll die SPD wieder auf die Beine kommen, wie soll sie wieder ein Rennen, wie soll sie eine Wahl gewinnen, wenn ihre Minister, Ministerinnen, ihre Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einfach sitzen bleiben? Wenn die Hoffnungsträger die Hoffnung nicht tragen, gibt es wenig Hoffnung. Wenn die Spitzenleute sich nicht bewegen, kommt nichts in Bewegung. Wenn sie nicht antreten, müssen sie beiseitetreten und die Leute hinter ihnen ermuntern.

Giffeys Doktorarbeit

Eine Renaissance der SPD beginnt mit dem Mut ihrer Funktionäre und Spitzenleute. Eine der ganz wenigen Spitzenleute, die bisher die Ohne-Mich-Orgie nicht mitmacht, ist Franziska Giffey, die Familienministerin, die frühere Bezirksbürgermeisterin von Neukölln. Sie ist tough, sie ist beliebt, sie kann was – aber sie gilt als angeschlagen, weil die Freie Universität prüft, ob ihre Doktorarbeit ein Plagiat ist. Natürlich kann und darf man fragen, ob ein Parteichef oder eine Parteichefin einen Doktortitel braucht. Aber darum geht es nicht. Es geht um den Verdacht der Unredlichkeit. Die Minister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU, ehemaliger Verteidigungsminister) und Annette Schavan (CDU, ehemalige Bildungsministerin) traten nach Aufdeckung der Plagiate (die einen sehr verschiedenen Umfang hatten) zurück. Das müsste Franziska Giffey, wenn die Prüfungskommission auf Plagiat entscheidet, auch tun. Und dann ist es schwer vorstellbar, dass sie als Parteichefin Vertrauen für die SPD zurückgewinnen könnte. Gewiss: Ein Parteiamt ist etwas anderes als ein Regierungsamt; aber der Verdacht der Unredlichkeit kontaminiert das eine wie das andere.

Ein guter Parteivorsitzender ist nicht deswegen gut, weil er einen Doktortitel hat. Den braucht man nicht. Bebel war kein Doktor, Brandt nicht, Schmidt nicht. Ein guter Politiker wird ganz von selber Doktor: Ehrendoktor nämlich. Aber der Entzug eines Doktortitels indiziert den Makel der Unehrlichkeit. Ein solcher Makel macht ein erfolgreiches politisches Wirken schwierig, wenn nicht unmöglich. Und so hängt das Schicksal der SPD womöglich nicht zuletzt an der Entscheidung einer Universitätskommission. Sie entscheidet nicht nur über die Redlichkeit einer Doktorarbeit, sondern auch darüber, ob eine ansonsten aussichtsreiche Kandidatin zum Mitgliederentscheid antreten kann.

Es sollte jedenfalls eine Doppelspitze geben – eine Frau, ein Mann und möglichst viele Bewerber, die sich in einer Urwahl einen begeisternden Wettbewerb liefern. Für den männlichen Part der Doppelspitze böte sich zum Beispiel einer an, der zwar keinen Doktortitel hat, dafür aber ein habitueller Sozialdemokrat ist: der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius. Die SPD braucht einen begeisternden Wettbewerb. Nur wer selbst begeistert ist, kann andere begeistern. Der Satz war immer richtig. So richtig wie heute war er für die SPD noch nie.

Eine begeisternde Sommerwoche wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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