Guten Tag,

Wahltage sind die Geburtstage der Demokratie; und der Wahlkampf vorher ist die Zeit der Glückwünsche. In diesem Jahr 2021 mit seinen sechs Landtagswahlen und einer Bundestagswahl könnte das Glück besonders groß, könnten die Glückwünsche besonders überschwänglich sein. Aber es sind Wahlen unter Corona-Bedingungen; und das Virus frisst den Wahlkampf; es frisst ihn in seiner gewohnten Form, so wie es viele andere Gewohnheiten auch gefressen hat: Das Virus frisst die öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen, es frisst die Wahlversammlungen und die Wahlkundgebungen; es frisst den Straßenwahlkampf, es frisst die Wahlwerbung an den Haustüren und die Diskussionen an den Tapetentischen in der Fußgängerzone.

Soziale Distanz

Ein Teil dieses Wahlkampfs ist digital ersetzbar und ins Digitale transformierbar – aber nur ein Teil. Die Parteien können die Aufstellung ihrer Kandidatinnen und Kandidaten statt in Präsenz digital organisieren; sie haben das auch schon gemacht; das funktioniert. Anderes funktioniert nicht so gut: Die kleinen Parteien, die für die Zulassung ihrer Wahlvorschläge viele Unterschriften sammeln müssen, können das in den leeren Fußgängerzonen nicht. Ihnen muss daher der Gesetzgeber entgegenkommen und die bisher vorgeschriebenen Unterschriftenquoren senken, weil sonst das Recht auf Wahlgleichheit verletzt ist; das kann dann funktionieren.

Vieles andere wird nicht funktionieren. Die Anti-Corona-Maßnahmen beruhen fast allesamt auf der Herstellung von sozialer Distanz. Demokratie lebt aber gerade von der Überwindung sozialer Distanz. Das ist nicht nur ein schönes Sprüchlein; das ist so und das wird im Wahlkampf besonders deutlich. Demokratie lebt von der Diskussion, sie lebt vom persönlichen Kontakt.

Was zum Wahlkampf gehört

Es mag ja sein, dass die öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen der Parteien, dass die Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen überschätzt sind, dass sie überwiegend der Mobilisierung der eigenen Anhänger dienen; aber auch das ist wichtig; das gehört zum Wahlkampf, das gehört zur Demokratie. Es mag sein, dass Wahlkampf seit langem vor allem in den Medien, auch in den sozialen Medien, stattfindet. Aber der Wahlkampf dort ist auch ein Spiegel, er orientiert sich an öffentlichen Auftritten und Aktionen, die es in diesem Wahljahr nicht oder viel weniger gibt.

Viren und Türen

Das ist vielleicht weniger ein Problem für Scholz, Laschet, Söder und Co. Aber das ist ein Problem zum Beispiel für viele Direktwahlkandidaten. Wenn und weil es keinen Straßenwahlkampf gibt, ist ihnen ist die Möglichkeit genommen, sich persönlich im Wahlkreis bekannt zu machen – was zumal dann wichtig ist, wenn sie das erste Mal kandidieren. Die Direktwahlkandidaten haben normalerweise die Chance, sich gegebenenfalls von einem negativen Bundestrend ihrer Partei abzusetzen. In einem Jahr, in dem es einen Straßenwahlkampf, einen Fußgängerzonen-Wahlkampf und einen Haustür-Wahlkampf nicht gibt, haben sie diese Chance nicht.

Verlierer und Gewinner der Pandemie

Die Direktkandidatinnen und die Direktkandidaten sind daher die Verlierer der Pandemie. Gewinner der Pandemie sind die Parteifunktionäre, die bei der Aufstellung der Listen die Strippen ziehen, also bei der Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten, die über die Parteiliste gewählt werden. Der Souveränität und der Unabhängigkeit der Abgeordneten dient das nicht unbedingt, weil die Listenaufstellung gern als Mittel der innerparteilichen Disziplinierung genutzt wird; wer über die Liste ins Parlament einzieht, tendiert dazu, sich der jeweiligen Mehrheitsströmung in der Partei anzupassen.

Die Pandemie, das große Fragezeichen

Die Pandemie ist das große Fragezeichen, das über dem großen Wahljahr 2021 steht. Der weitere Verlauf der Pandemie wird die Chancen von Parteien und Personen wesentlich bestimmen. Die Pandemie wird darüber mitentscheiden, wer Kanzlerkandidat der CDU/CSU wird. Und die Pandemie wird darüber mitentscheiden, ob dieser Kandidat die Union nach oben oder nach unten führt. Die Unsicherheit über die Chancen des einen Kandidaten ist diesmal noch viel, viel größer als sonst. Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie das Virus.

Schon in Normalzeiten, schon in Vor-Corona-Zeiten also, waren Wahlkämpfe Achterbahnfahrten; das wird diesmal mehr denn je so sein. Erinnern Sie sich an die Zeit vor vier Jahren, als der damalige Bundestagswahlkampf gerade anlief? Vor genau vier Jahren, am 29. Januar 2017, wurde Martin Schulz, damals Präsident des Europa-Parlaments, vom SPD-Parteivorstand einstimmig als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl nominiert und wenig später vom außerordentlichen Bundesparteitag mit hundert Prozent der gültigen Stimmen zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten der SPD gewählt. Innerhalb kürzester Zeit traten zehntausend Menschen der SPD bei. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatte die Nominierung eines Kanzlerkandidaten einen solchen Umfragesturm ausgelöst wie die Nominierung von Martin Schulz. Noch nie seit 1949 hatte ein Bundestagswahlkampf der SPD so furios begonnen. Und noch nie seit den Zeiten von Willy Brandt hatte die Sozialdemokratische Partei einem Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten so dankbar gehuldigt. Die Kommentatoren überschlugen sich.

Furioser Auftakt, desaströses Ende

Damals, vor vier Jahren, hat fast ein Jeder gesagt: Es wird ein erregendes Duell. Es konkurrierte, so sah es aus, eine moderierende, manchmal fast parteilos wirkende Staatsfrau mit einem agierenden und agitierenden Sozialdemokraten. Es konkurrierte Solidität mit Solidität – aber in ganz verschiedenen Charakteren, Temperamenten und Eigenarten. Schulz stand an der Spitze einer SPD, die sich einhellig hinter ihn geschart hatte. Eine SPD, die ihrem Kandidaten den roten Teppich jubelnd ausgerollt hatte, konkurrierte mit einer Union, in der jedenfalls die CSU ihrer Kanzlerkandidatin den schwarzen Teppich am liebsten unter den Füßen weggezogen hätte.

Es konkurrierte die demonstrative Leidenschaftlichkeit des Martin Schulz mit der demonstrativen Leidenschaftslosigkeit der Angela Merkel. Es konkurrierte die Frau, die jeder kennt, mit dem Mann, den viele kennenlernen wollten. Es konkurrierte die Frau, die vielen als verbraucht galt, mit dem Mann, der als frisch galt. Aber es zeigte sich, wie ungeheuer schnell sich solche Zuschreibungen ändern. Der Absturz von Schulz und seiner SPD war schnell und brutal.

Ausschlaggebend ist ja nicht, wie ein Wahlkampf beginnt, sondern wie er endet. Mit der frenetischen Inauguration von Martin Schulz hatte er erst begonnen. Er endete mit einem Desaster, er endete mit dem schlechtesten Bundestagswahlergebnis der SPD seit 1949 – 20,5 Prozent. Von diesem Desaster hat sich die SPD seitdem nicht mehr erholt, im Gegenteil: Sie wäre heilfroh, wenn sie heute auf eine solche Prozentzahl käme.

Zerbrechliche Zeiten

Diese Erinnerung lehrt große Vorsicht bei Prognosen. Die Zeiten sind noch viel volatiler, viel zerbrechlicher als vor vier Jahren. „The Times They Are A Changing“, hat Bob Dylan vor fast fünfzig Jahren zum ersten Mal gesungen. Aber noch nie seitdem waren die sich wandelnden Zeiten so grundstürzend.

Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns allen demokratische Leidenschaft in anstrengenden Zeiten.

Ihr

Heribert Prantl

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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