Sehr geehrte Damen und Herren,

„Weiterarbeiten und nicht verzweifeln“: Das war das Motto, das der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel viele Jahre lang im Geldbeutel mit sich herumtrug. Herbert Wehner hatte ihm einst den Zettel zugesteckt. Vogel hat ihn gern als Kopie weiterverteilt; mir hat er ihn vor zwei Jahrzehnten geschenkt, als ich mich über die Änderung des Asylgrundrechts empörte. Eine Zeitlang hing er an meiner Tür im SZ-Büro.

In den vergangenen Wochen hätten alle gut 425 000 SPD-Mitglieder einen solchen Zettel brauchen können. Vielleicht wäre dann die Beteiligung an der Abstimmung über eine neue Parteiführung höher gewesen. 222 278 haben abgestimmt, das sind 53,3 Prozent. 22,7 Prozent haben für das Duo Olaf Scholz und Klara Geywitz gestimmt, 21 Prozent für das Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Diese beiden Paare kommen nun in die Stichwahl, die bis 30. November dauert. Eines dieser Paare wird die SPD ab Dezember führen. Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.

Verzweiflung und Verzwergung

Mit einem Einfach-so-Weitermachen wird es nicht getan sein. Die neue SPD-Führung wird sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Verzwergung der SPD stemmen müssen. Das wird nicht mit einem Weiter-so gelingen, auch nicht mit Zick-Zack, sondern nur mit einem Kurs, der das Soziale mit dem Ökonomischen verbindet und der beim Wort Gerechtigkeit wieder an die SPD denken lässt. Ob das wirklich ein Olaf Scholz sein kann? Er war bisher die Personifizierung des Weiter-so.

Ja, natürlich. Willy Brandt wäre jetzt der richtige SPD-Vorsitzende. Er war einer, der so viele Katastrophen überlebt, der das Nicht-Verzweifeln personifiziert hat. Er steht heute, drei Meter vierzig groß, als Skulptur und Mahnung im Erdgeschoss der Parteizentrale zu Berlin, dort, wo am Samstag die Stimmen der Mitgliederbefragung ausgezählt wurden. Und wären in der SPD katholische Bräuche üblich, würden dort jetzt Kerzen brennen mit der Bitte um Erleuchtung und Wegweisung. Fast alle Wahlergebnisse der vergangenen Jahre schmecken nach Demütigung und Erniedrigung. Vom Stolz der ältesten deutschen Partei ist nicht mehr viel da. Da beginnt in ein paar Wochen die Suche: nach dem alten Stolz unter einer neuen Führung. Sollte Scholz nicht zum Parteichef gewählt werden, kommt ihm trotzdem eine unglaublich wichtige Rolle zu: Er muss dann zeigen, dass es zu den sozialdemokratischen Tugenden gehört, nicht den Bettel hinzuwerfen. Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.

Kein Lohengrin, aber NoWaBo

Am liebsten wäre der Partei ein politischer Held – jung, aber nicht ganz so jung wie der Juso-Chef Kevin Kühnert, unverbraucht, nicht kontaminiert von der Agenda 2010 und nicht beschädigt von der großen Koalition. Aber: Politik ist keine Wagner-Oper, ein Lohengrin kommt nicht, es kommt allenfalls Norbert Walter-Borjans, genannt NoWaBo, 67 Jahre alt, ein Mann, der sich als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen mit einem furiosen Feldzug gegen Steuerbetrüger einen Namen gemacht hat. Er hat für 17 Millionen Euro sogenannte Steuer-CDs angekauft, darauf Daten von Steuerhinterziehern, die ihr Geld in die Schweiz geschafft hatten. Mit diesen CDs wurden sieben Milliarden Euro Bußgelder eingetrieben – und die Finanzbehörden konnten sich vor Selbstanzeigen von panisch gewordenen Steuerhinterziehern, die retten wollten, was zu retten ist, kaum retten. Ein Robin-Hood-haftes Image haftet Walter-Borjans seitdem an. Das ist nicht Nichts.

Herbert Wehner

Die finale Entscheidung über die neue Führung der SPD fällt in einer Zeit der Jubiläen: Vor fünfzig Jahren hielt Willy Brandt als erster SPD-Bundeskanzler seine berühmte Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“. Und vor sechzig Jahren wagte die SPD mit dem Godesberger Programm ihre Umwandlung von einer Klassenpartei in eine linke Volkspartei. Das sind große Erinnerungen in bitteren Zeiten: „Sozialismus ist die dauernde Aufgabe, Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren“. So steht es im Godesberger Programm, das den „demokratischen Sozialismus“ propagiert, verabschiedet am 15. November 1959. Zuletzt war es Olaf Scholz, der sich als SPD-Generalsekretär 2003 für diesen demokratischen Sozialismus geniert hat und ihn der Partei austreiben wollte.

Der demokratische Sozialismus

Als Wurzeln dieses demokratischen Sozialismus wurden damals, vor sechzig Jahren, die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie genannt. Der Hinweis auf den Marxismus, der in allen früheren Programmen eine wichtige Rolle gespielt hatte, fehlte. Das neue Programm wollte keine „letzten Wahrheiten“ mehr verkünden; der Sozialismus wurde nicht mehr als ein durch Evolution oder Revolution zu erreichendes Ziel verstanden, sondern als permanenter Prozess. Diese neue Politik zahlte sich damals, vor sechzig Jahren, in stetigem Stimmenzuwachs aus.

Die SPD gewann in der Mittelschicht neue Wähler. Herbert Wehner war der parteiinterne Motor der Verwandlung, Willy Brandt ihr charismatischer Exponent. Und Brandt blieb Parteivorsitzender, obwohl die SPD weder 1961 noch 1965 die Union als die Regierungspartei ablösen konnte. Die SPD hatte mehr Geduld damals, und ihre Chefs hatten mehr Durchhaltevermögen. Seit Willy Brandt wechseln die Vorsitzenden in sehr kurzem Takt; nur Sigmar Gabriel hielt es acht Jahre aus. Er war der am längsten amtierende SPD-Chef seit Brandt. Das ist das erste, was die neue Parteiführung zeigen muss: Dass für sie SPD etwas anderes ist als eine heiße Kartoffel.

In die Glut blasen

Vor fünfzig Jahren stand in der Regierungserklärung von Willy Brandt der berühmte Satz: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, sondern wir fangen damit erst richtig an.“ Diesen Satz auf die SPD umzumünzen, wird auch einer noch so elanvollen neuen Führung nicht gelingen: Zu finster ist die Finsternis bei der SPD. Es brennt nichts mehr in der SPD, es glimmt nur noch. Die neue Führung ist auch dafür da, in das bisschen Glut zu blasen, das es noch gibt. Weiterblasen und nicht verzweifeln. Dann wird vielleicht aus der Glut wieder Feuer.

Die Geschichte lehrt, dass die SPD dann strahlt, wenn sie diskutiert, wenn sie ehrlich mit sich ringt, so wie sie es ein klein wenig bei der Kandidatenkür der zurückliegenden Wochen gezeigt hat. Seit über hundert Jahren, seit Eduard Bernstein, hat sie auf diese Weise geistige Kraft gewonnen und den Weg zur Volkspartei gefunden. Sie ist Volkspartei geworden, weil sie es verstanden hat, Partei der kleinen Leute zu bleiben und zugleich Partei der gesellschaftlichen Mitte zu werden. Und sie ist als Volkspartei gestürzt worden, als ihr das nicht mehr gelang; sie verlor ihre Anziehungskraft.

Entweder der SPD gelingt es wieder, als Partei der sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit anerkannt zu werden – oder ihre Geschichte verweht. Die finale Entscheidung darüber, wer künftig die Partei führt, ist also eine historische Entscheidung: 1959, Godesberger Programm; 1969, die erste Regierungserklärung eines SPD-Kanzlers; 2019, eine letzte Chance für die SPD. Weiterarbeiten oder verzweifeln.

Es beginnt in ein paar Tagen der Monat November, der Totenmonat. Viele von Ihnen werden, wie ich auch, an Allerheiligen an den Gräbern ihrer Verstorbenen stehen. Ich wünsche Ihnen die innere Ruhe, die man an solchen Tagen braucht – und gute, farbige Erinnerungen in einem grauen Monat.

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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