Immer mehr Menschen mit wenig Einkommen konkurrieren um immer weniger Wohnungen. Sie zahlen die Quittung für einen politischen Grundfehler.

Viele der deutschen Mietervereine sind oder werden derzeit 100 Jahre alt. Sie wurden gegründet oder wiedergegründet, als alles im Umbruch war in Deutschland, als die Weimarer Demokratie zu leben versuchte und es nicht richtig schaffte. Das waren die Jahre, in denen rührige Gewerkschafter in die „Gaststätte zur Rose“ oder in den „Weißen Hirschen“ einluden, um mit einem Verein das zu erreichen, was in der Weimarer Verfassung versprochen war: „Jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsstätte“. So stand es in Artikel 155 der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919.

Demonstrationen gegen den „Mietenwahnsinn“

Gäbe es die Mietervereine nicht schon, man müsste sie erfinden und gründen. Die Situation auf dem sogenannten Wohnungsmarkt ist so, dass das Wort „angespannt“ ein sehr verharmlosendes, ein fast zärtliches Wort ist. Am kommenden Samstag ruft deshalb das „Bündnis Mietenwahnsinn“ zu einem bundesweiten Protesttag. In Jena, Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt und München, in zahlreichen Städten in Deutschland wird demonstriert unter dem Motto „Gemeinsam gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn“.

Sozialverbände warnen, dass die steigenden Wohnkosten ein Armutsrisiko darstellen. Über eine Million Haushalte in den Großstädten haben schon jetzt nach Abzug der Miete weniger Geld zum Leben, als wenn sie den Hartz-IV-Regelsatz bekämen. In Berlin sagen fast die Hälfte der Mieter, dass sie Angst haben, sich ihre Wohnungen in zwei Jahren nicht mehr leisten zu können. Da muss sich etwas ändern!

Anspruch auf angemessenen Wohnraum

Was hilft das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, was nutzt der Schutz der räumlichen Privatsphäre, wenn man keine hat und keine findet? Die Bayerische Verfassung kennt den Anspruch auf angemessenen Wohnraum, das Grundgesetz kennt ihn nicht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 dagegen kennt das Recht auf Wohnen sehr wohl. Und das Bundesverfassungsgericht hat mit einiger Deutlichkeit gesagt: „Die Privatwohnung ist als letztes Refugium ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde“. Das Grundgesetz hat an diesem Punkt Nachholbedarf. Von sozialen Grundrechten liest man dort nicht viel.

Wenn in Deutschland von Wohnungsnot die Rede ist, geht es oft um Durchschnittsverdiener mit Kindern in München, Frankfurt oder Hamburg, die verzweifelt auf der Suche nach einer größeren und bezahlbaren Wohnung sind und scheitern. Sie müssen weiter beengt wohnen oder hinaus aufs Land ziehen und zur Arbeit pendeln. Das ist ungut. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Wohnungsnot erst seitdem massiv und lautstark öffentlich beklagt wird, seitdem auch Mittelstandsfamilien und Studenten darunter leiden. Tatsächlich trifft die Wohnungsmisere Arme und Arbeitslose sehr viel härter und massiver, sie trifft sie existentiell – und zwar seit vielen Jahren. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände haben sich kräftig eingesetzt, sind aber zu wenig durchgedrungen. Immer mehr Menschen mit wenig Einkommen konkurrieren um immer weniger bezahlbare Wohnungen.

Ein politischer Grundfehler

Diese Menschen zahlen die Quittung für einen politischen Grundfehler. Viele Städte und Länder haben, von Geldnot und dem neoliberalen Zeitgeist getrieben, Zehntausende von Wohnungen an private Investoren verkauft. Wer, wie die Stadt München, am „kommunalen Eigenbestand“ festhielt, galt als hoffnungslos antiquiert. Privatisierung war das tückische Zauberwort; je weniger Staat, desto besser, hieß es. Das war falsch, das war gefährlich falsch.

Die verscherbelten Häuser fallen oder fielen aus der Sozialbindung, und dann will der Investor, was sein Recht ist, Geld sehen – zu Lasten der Mieter. In den vergangenen 30 Jahren verminderte sich der Bestand an Sozialwohnungen von gut vier Millionen auf deutlich weniger als 1,5 Millionen. Geblieben aber sind die Menschen, die solche Wohnungen brauchen – und es sind noch welche dazu gekommen wie Flüchtlinge und dringend gesuchte ausländische Arbeitskräfte. So viele Kranken- und Kinder-Pflegekräfte suchen Wohnungen; Sozialpädagogen suchen, Reinigungskräfte suchen, so viele Friseure, Bäcker und Lieferanten suchen, alle anderen schlecht bezahlten Arbeitenden suchen auch – und sie und ihre Familien brauchen die Wohnungen nicht irgendwo, sondern dort, wo Arbeit ist.

Die Wut wächst

Bisher sind deutsche Städte, bis auf Ausnahmen, vor jenem Auseinanderdriften bewahrt geblieben, das es so oft in Europa gibt und das nur sehr schwer rückgängig zu machen ist: Hier die behüteten Viertel der Wohlhabenden, dort die Banlieues und die inner cities, wo sich die Abgehängten sammeln und die Wut wächst, bis sie Flammen schlägt; die Mittelschicht flieht dann aus der Stadt. Aber auszuschließen ist das hierzulande nicht mehr, und marktwirtschaftliche Heilslehren werden es nicht verhindern. Seit der Finanzkrise hat die Idee, es müssten nur genug Leute mithilfe von Krediten in die eigenen vier Wände ziehen, dann werde der Markt schon alles richten, ihre Strahlkraft verloren.

Die Zahl der verfügbaren Sozialwohnungen ist in den vergangenen Jahren drastisch gesunken, obwohl die Zahl der Anspruchsberechtigten steigt. Es werden viel zu wenige Wohnungen gebaut. Es fehlt in erster Linie an bezahlbarem Bauland. Die steigenden und horrenden Grundstückspreise sind der zentrale Grund, warum die Mieten und das Bauen so teuer geworden sind.

Eine Stadt muss ein Gemeinwesen bleiben, sie darf nicht Goldgrube für Spekulanten sein

Eine Neuordnung des Bodenrechts ist daher kein kommunistischer oder sozialistischer Unfug, sondern eine Notwendigkeit. Die Bodenreform ist ein wohnungsbaupolitisches Thema und eines der Gerechtigkeit. Keinem anderen Thema wird schon so lange Unaufschiebbarkeit attestiert, seit über 120 Jahren. Und kein anderes Thema wird schon so lange aufgeschoben. Es geht um die Umsetzung des Artikels 14 Absatz 2 Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet“. Eine Stadt muss anders funktionieren als Wetten auf Schweinehälften. Eine Stadt muss ein Gemeinwesen bleiben, sie darf nicht Goldgrube für Spekulanten sein. Es lohnt sich, für ein gutes Gemeinwesen zu demonstrieren.

 


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