Ein Essay zum Weltflüchtlingstag. Es geht um Leben und Tod. Jedes Leben zählt.

Von Heribert Prantl

Es geht um die Erkenntnis, dass jedes Leben zählt. Es geht um die Erkenntnis, dass man die Schwachen schützen muss. Dass man alles tun muss für sie. Diese Erkenntnis war auf einmal da. Es waren erschütternde Bilder, es waren die Fernsehbilder von ganz vielen Toten, die diese Erkenntnis auslösten. Wir alle sahen Sarg an Sarg, ganze Alleen von Särgen. Und in jeder dieser Holzkisten, lagen unverwechselbare Menschen mit einer unverwechselbaren Geschichte, tragisch ums Leben gekommen. Ihre engsten Verwandten, ihre Freundinnen und Freunde konnten ihnen nicht das letzte Geleit geben.

Diese vielen Toten in Italien haben einen heilsamen Schock ausgelöst. Sie haben uns aus unserer Gleichgültigkeit geholt. Es ist bitter, dass es oft erst Tote braucht und drastische Bilder, um zu verstehen, woran es fehlt. Nicht nur einige, die man Gutmenschen nennt, haben es verstanden, sondern die Politik, quer durch die Parteien, hat begriffen: Wir müssen handeln. Es geht um Leben und Tod. Unter dem Eindruck der grauenvollen Bilder wurde gehandelt. Die Politik konzentrierte sich auf die Rettung von Menschen. Sie stellte die Interessen der Wirtschaft zurück, sie nahm eine Rezession in Kauf: Fabriken und Betriebe wurden geschlossen, die Produktion wurde umgestellt auf andere Güter, die in der Krise nötig waren. In den Krankenhäusern wurden Operationen verschoben und Betten geräumt, um Platz für die Rettung Bedürftiger zu schaffen. Und die Politiker wurden dafür gelobt, dass sie das anordneten. Es wurde von ihnen gefordert, noch mehr zu tun, um des Elends Herr zu werden. Die Kirchen ließen sogar ihre Gottesdienste zugunsten von Schutzmaßnahmen ausfallen. Den Kritikern solcher Maßnahmen wurden Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit abgesprochen. Fast die ganze Gesellschaft war sich einig darin, dass jetzt Solidarität mit den Schwachen das Gebot der Stunde sei. Diese schlichte Erkenntnis löste eine Rettungslawine aus.

Das alles geschah nicht im Jahr 2013, als die Sargalleen mit den Körpern der ertrunkenen Flüchtlinge im italienischen Lampedusa aufgereiht standen und der neugewählte Papst Franziskus seine erste Auslandsreise auf diese Insel unternahm. Das alles geschah nicht, als die Leichen ertrunkener Kinder an den Küsten der Türkei und der griechischen Inseln angespült wurden. Es geschah nicht, als die Boote, in denen sich die Flüchtlinge drängten, auf dem Mittelmeer untergingen – wie zuletzt vor zwei Wochen, als vor der griechischen Küste ein Schiff mit siebenhundert Flüchtlingen an Bord sank, darunter viele Kinder und schwangere Frauen.

Ein riesiger Friedhof

Die genannten Rettungsaktionen gab es im Jahr 2020, als Corona begann und sich in Bergamo Sarg an Sarg reihte. Es gab und gibt die Rettungsaktionen nicht für Flüchtlinge, nicht für die Opfer von Diktatur, Gewalt und Hunger; es gab sie für die Opfer von Corona. Zehntausende von Menschen, die bei ihrer Flucht umkommen, werden namenlos bleiben. Sie ertrinken im Mittelmeer oder sie werden an Grenzzäunen getötet. Das Mittelmeer ist ein riesiger Friedhof. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn man für jeden Menschen, der an seinen Zukunftshoffnungen starb, ein Kreuz auf dem Meer aufrichten würde, auf dem sein Name stünde. Es wären seit 2014 25 000 Kreuze – 25 000 Männer, Frauen, Kinder; 25 000 Lebensgeschichten.

Stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch mit diesen Lebensgeschichten; darin verzeichnet alle Schicksale, alles Leid, alles Elend, alle Hoffnung, alle Zuversicht. Stellen wir uns vor, es gäbe in diesem großen Flüchtlingsbuch eine Seite für jeden Flüchtling, eine Seite für jeden Vertriebenen, eine Seite für jeden, der seine Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen musste. Eine Seite nur für jeden; für alle Sehnsucht, für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das Leben und für das Sterben und für alles dazwischen. Stellen wir uns vor, wie ein solches Buch aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte hundertacht Millionen Seiten. So viele Flüchtlinge gibt es derzeit auf der Welt.

All diese Flüchtlinge wären notiert in diesem Buch: diejenigen, deren Heimat von Putin zerbombt wird; diejenigen, die dem Terror der Islamisten mit knapper Not entkommen sind; diejenigen, die es nach Europa schaffen und dort von Land zu Land geschickt werden; diejenigen, die im Mittelmeer ertrunken sind; diejenigen, die durch die Wüsten Afrikas gelaufen sind und dann in Ceuta und Melilla, an der Grenze zu Europa, vor einem Stacheldrahtzaun stehen; diejenigen, die zu Millionen in ihrem Nachbarland in Notlagern darauf warten, dass die Zustände im Heimatland besser werden; diejenigen auch, die nach dem Verlassen ihrer Heimat verhungert und verdurstet sind, die verkommen sind in der Fremde; die Kinder wären genauso verzeichnet in diesem Buch wie ihre Mütter und Väter, die Kinder also, für die es keinen Hort und keine Schule gibt. Es stünden in diesem Flüchtlingsbuch auch diejenigen Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat – und wie sie es geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein.

Es wäre dies nicht ein einzelnes Buch; es wäre ein Buch bestehend aus vielen Bänden. Wenn jeder dieser Bände fünfhundert Seiten hätte – das Flüchtlingsbuch bestünde aus zweihunderttausend Bänden. Es wäre dies eine gewaltige Bibliothek. Wenn man die Bände stapelte, wäre der Bücherturm höher als der höchste Berg der Erde. Es gibt dieses Buch nicht, es gibt diese Bücherberge nicht. Es gibt die Menschen, die der Inhalt dieser Bücher wären: Flüchtlinge, Geflüchtete nennen wir sie.

Ihnen gilt das Gedenken wenigstens an dem Tag, der Weltflüchtlingstag heißt.


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