Sehr geehrte Damen und Herren,
an diesem Sonntag ist Volkstrauertag. Dieser Volkstrauertag war ein merkwürdig trister Tag in meiner Kindheit. Er war eine Art Nachklapp zu Allerheiligen und Allerseelen. Er war der mühsame staatliche Versuch, die innige Trauer aufzuwärmen, mit der man zwei Wochen vorher der Toten aus der Familie und der Verwandtschaft liebevoll gedacht hatte. Die kollektive Trauer am Volkstrauertag war anders; sie war kälter als an Allerheiligen; da waren keine roten Lichter auf den Gräbern; da standen Soldaten mit rauchenden Fackeln vor dem Kriegerdenkmal. Der Kranz, den sie niederlegten, klirrte beim Niederlegen, weil ein Teil des Blätterschmucks aus Metall war. Wiederverwendbar. Die Alten nannten den Tag noch „Heldengedenktag“; das war der Name, den die Nationalsozialisten dem Tag gegeben hatten.
Das Lied vom guten Kameraden
Die Trauer am Volkstrauertag war provinziell-monumental, sie roch nach dem Pech der Fackeln und nach moderndem Laub; es waren ja schon die ersten Fröste durch die Oberpfalz gegangen. Der Vorsitzende der Soldaten- und Kriegerkameradschaft des kleinen Städtchens hatte seinen großen Auftritt: Er trat in die Mitte des kreisrunden steinernen Kriegerdenkmals, räusperte sich und eröffnete seine Rede mit den alljährlich gleichen Worten: „Wenn im Herbst“, sagte er, „wenn im Herbst die Blätter fallen, denken wir an unsere gefallenen Kameraden“. Dann spielte die Blaskapelle das Lied vom guten Kameraden und der Vater meines Schulbanknachbarn blies ein Trompetensolo, das, der Kälte wegen, ein wenig schräg klang.
Die Trauer schmilzt in der Masse
Getrauert wurde, getrauert wird an diesem Volkstrauertag um zig Millionen Tote. Das Besondere daran ist: Je größer die Zahlen, je länger die Listen der Toten, je höher die Leichenberge, je allgemeiner die Trauer, desto weniger beeindruckt sind wir. Die Trauer schmilzt in der Masse. Mit der Trauer verhält es sich so, wie es sich mit der strafenden Gerechtigkeit im Recht und im Völkerrecht bis in die jüngste Vergangenheit verhalten hat: Ein Mord führt ins Gefängnis; Zehntausende Morde führten in die Verhandlungssäle.
Trauer braucht Gesichter, Trauer braucht Namen, Trauer braucht Einzelne. Es ist gut, wenn die Namen der gefallenen Soldaten immer noch sichtbar in den Stein der Denkmäler gemeißelt sind. Nicht so gut ist es, wenn daneben ein alter militaristischer Spruch steht, ein Spruch wie: „Den gefallenen Soldaten zum dankbaren Gedächtnis, den Lebenden zur Mahnung, den kommenden Geschlechtern zur Nacheiferung.“ Nacheiferung? Kommende Geschlechter sollen dem großen Geschlachte nacheifern? „In stolzer Trauer“ hatte es in den Todesanzeigen des Zweiten Weltkriegs geheißen. Die Trauer war angeblich durch den von der NS-Politik behaupteten Sinn des Todes erhoben über das persönliche Leid.
Das Reden von den Helden ist schal geworden
Das Gedenken am Volkstrauertag hat sich geändert in den vergangenen Jahrzehnten. Das Reden von den Helden ist schal geworden. Das Bewusstsein dafür ist gewachsen, dass viele derjenigen, die man einst Helden nannte, Täter und Opfer gewesen sind. Und das Gedenken bezieht heute auch die Menschen ein, die vom NS-Regime ihrer menschlichen Würde beraubt und ermordet worden sind: die Juden, die Sinti und Roma, die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Auf den alten Kriegerdenkmälern stehen ihre Namen nicht. Manchmal frage ich mich, ob man eigentlich an ein und demselben Tag sowohl den gefallenen Soldaten von Nazi-Deutschland gedenken darf, als auch denen, die von diesem Nazi-Deutschland verfolgt und getötet worden sind.
Die Aufgabe des Volkstrauertags: Kriege verhindern
Ich denke, man darf. Man darf, wenn das Gedenken nicht nur ein Rückblick ist – wenn es nicht nur in die Vergangenheit blickt, sondern darüber nachdenkt, was diese für die Zukunft bedeutet. Der Volkstrauertag hat eine unendlich wichtige Aufgabe: Er soll dazu beitragen, Krieg zu verhindern. Wenn es gut geht, hat der Volkstrauertag eine eigene Kraft: Es ist, zum Beispiel, die Kraft, von Neuem die Verhandlung zu suchen, wenn gerufen wird, man solle bombardieren.
Ein besonders wichtiger Volkstrauertag in der jüngeren Geschichte Deutschlands war wohl der des Jahres 2001. Der Kalender hatte es so gefügt, dass der Volkstrauertag unmittelbar auf den Beschluss des Bundestags folgte, deutsche Soldaten in einen Krieg zu schicken. Es war am 16. November 2001. Die deutsche Teilnahme am Kriegseinsatz am Hindukusch unter dem Namen „Enduring Freedom“ war so umstritten in der rot-grünen Regierungskoalition, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sich gezwungen sah, die Abstimmung darüber mit der Vertrauensfrage zu verbinden; und er erhielt bei der Abstimmung über das Isaf-Mandat in Afghanistan eine Mehrheit.
Dem Frieden durch Krieg näher rücken?
In diesem Zusammenhang bekamen die sonst wohlfeilen Sätze, die zum Volkstrauertag gern dem humanistischen Schatzkästlein entnommen werden, eine neue Bedeutung: „Dulce bellum inexpertis / Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen“ schrieb Erasmus von Rotterdam in einem berühmten Sprichwort. Wer dieses Sprichwort bisher in seiner Volkstrauertag-Gedenkrede routiniert zitiert hatte, musste sich im Jahr 2001 ein bisschen mehr überlegen, weil da sonst doch der Verdacht aufkommen konnte, mit den „Unerfahrenen“ seien Gerhard Schröder & Co gemeint – was ja nicht ganz abwegig war.
Der evangelische Bischof Wolfgang Huber äußerte bei der zentralen Volkstrauertag-Gedenkfeier immerhin Zweifel daran, ob der Krieg als äußerstes Mittel der Politik tauge. Und sogar beim Gottesdienst eines Burschenvereins in Oberbayern hieß es, dass „uns bedrückt“, wenn junge Menschen jetzt von der Regierung in einen Krieg geschickt werden. Der damalige Kanzler antwortete darauf im Bundestag kurz vor Weihnachten 2001: Es zähle, so sagte er, zu den bitteren Wahrheiten, dass der Frieden in Afghanistan „nur durch Krieg näher gerückt“ sei. Wir wissen heute, 18 Jahre später, dass er leider nicht viel näher gerückt ist. Dulce bellum inexpertis.
AKKs Anti-Verfassungskurs
Der Volkstrauertag sollte alljährlich der Tag im Jahr sein, an dem oder zu dem sich der Bundestag mit den militärischen Fragen, mit den Fragen des Einsatzes deutscher Streitkräfte, in besonderer Weise widmet – nicht nur mit zurückblickenden Reden, sondern mit vorausschauenden Diskussionen. Dazu gibt es derzeit ganz besonderen Anlass: Die neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ist, so sagt sie, bereit für eine zupackende Außenpolitik, für neue Bundeswehreinsätze in Afrika und Asien, für mehr deutsche Soldaten in aller Welt, für eine militärische deutsche Führungsrolle in der Welt. AKK ist bereit – aber das Grundgesetz ist es nicht. Das Grundgesetz hat mit dem, was AKK will, nichts zu tun.
Und es ist schon sonderbar und merkwürdig. Das ganze Jahr über, zum 70-jährigen Jubiläum, wurde das Grundgesetz gelobt und gepriesen – als Fundament für Staat und Gesellschaft, als Leitfaden, in dem die Grundentscheidungen getroffen werden. Aber wenn es um eine fundamentale Veränderung der Außenpolitik geht, um Staatsgewalt im Wortsinn, um Leben und Tod, um Krieg und Frieden, da spielt das Grundgesetz auf einmal keine Rolle mehr. Da wird so getan, als gäbe es kein Grundgesetz. Das ist kein ernsthafter, das ist kein guter Umgang mit der Verfassung.
Die Fundamente der Politik
Auch die großzügigste Auslegung der geltenden Grundgesetzartikel kommt irgendwann an Grenzen. Die Pläne von AKK überschreiten diese Grenzen; sie sind nur möglich mit einer Verfassungsänderung. Und ob eine solche Verfassungsänderung wirklich sein soll – das erfordert eine große und umfassende Diskussion und dann eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Es handelt sich um eine Fundamentalentscheidung. Sie betrifft die Fundamente der Politik. Der Volkstrauertag ruft nach einer solchen grundlegenden Debatte. Er betrifft die Fundamente der Politik.
Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen trotz der kalten und stürmischen Tage ein wenig warm wird.
Und: Wenn Sie Zeit haben und in oder bei München leben – am übernächsten Dienstag, 26. November, um 18 Uhr lese ich im Haus der Kunst in München aus meinem neuen Buch „Außer man tut es“.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung