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27. Januar: Vor 25 Jahren hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Tag zum Holocaust-Gedenktag erklärt; im gleichen Jahr wurde er zum ersten Mal begangen. Er erinnert an den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee im Jahr 1945.

Warum ist dieser Gedenktag notwendig? Gibt es nicht schon genügend Gedenktage? Es gibt eine ganz einfache, eine ganz kleine Antwort auf diese Frage: Der Holocaust-Gedenktag ist schon deshalb notwendig, weil sonst im Bundestag keine so berührenden Reden gehalten würden – Reden wie die der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch im Jahr 2018 oder Jahre davor die Rede von Zoni Weisz, der über das Leid der Sinti und Roma sprach. In diesem Jahr werden Charlotte Knobloch und Marina Weisband reden. Knobloch ist die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Weisband kam 1994 im Alter von sieben Jahren als Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland; die frühere Piraten-Politikerin spricht als Vertreterin der dritten Generation nach der Shoa.

Sechs Millionen ist eine unvorstellbare Zahl

Der Weg zum Grundgesetz, der Weg zu den Grundrechten führt durch Abgründe, er führt durch die Hölle. Am Wegrand stehen Gestapo, die SS und der Volksgerichtshof, am Wegrand stehen Zwangsarbeiter und Herrenmenschen, am Wegrand liegen sechs Millionen Menschen, von den Nazis erschlagene, erschossene, vergaste, zerprügelte, gefolterte und zermarterte Menschen.

„Sechs Millionen ist eine unvorstellbare Zahl“: So begann Anita Lasker-Wallfisch vor drei Jahren ihre Rede zum Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag. Lasker-Wallfisch hat einst Auschwitz als Cellistin im Mädchen-Orchester des Lagers überlebt. Sie hat Bergen-Belsen überlebt. Sie war damals 19 Jahre alt. Weil sechs Millionen ermordete Leben unvorstellbar sind, erzählte sie im Bundestag aus ihrem Leben: „In diesem Land geboren, also deutsch. Unser Vater war Rechtsanwalt und Notar am Oberlandesgericht, unsere Mutter eine wunderbare Geigerin. Wir waren drei Töchter und lernten alle ein Instrument spielen, ich mit Begeisterung Cello… Plötzlich war alles zu Ende. Radikale Ausgrenzung – ‚Juden unerwünscht‘ war überall zu lesen. Wir mussten unsere Wohnung räumen und zurück ins Mittelalter. Wir mussten den gelben Stern auf unserer Kleidung tragen. Auf der Straße wurde ich angespuckt und ‚dreckiger Jude‘ genannt. Unser Vater – unverbesserlicher Optimist – konnte es nicht glauben. Die Deutschen konnten doch diesen Wahnsinn nicht mitmachen.“ Sie haben diesen Wahnsinn mitgemacht; daran erinnert der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar.

Der Holocaust-Gedenktag

Zoni Weisz hat am Holocaust-Gedenktag 2011 über das Leid der Sinti und Roma geredet; er hat vom „vergessenen Holocaust“ geredet und von seiner Mutter, seinen zwei Schwestern und seinem Bruder, die in Auschwitz vergast worden sind. Er erzählte, wie er selbst das Grauen überlebt hat; und dann schilderte er den erbärmlichen Alltag der Sinti und Roma in Ungarn, Rumänien und Bulgarien, in der Slowakei und vielen anderen Ländern Europas.

An einem der ersten Holocaust-Gedenktage, an dem Gedenktag im Jahr 1997, hat Klaus von Dohnanyi über die Gegenwart der Vergangenheit nachgedacht und darüber, wie man so viele Jahrzehnte später gedenken, erinnern, verstehen und lernen kann. Der frühere Hamburger Bürgermeister und Sohn eines ermordeten Widerstandskämpfers hat das in schlichten Worten getan und mit praktischen Vorschlägen: „Jede Schule, die sich auch nur ein Opferschicksal aus jenen Tagen wirklich zu eigen macht, Stadtteile und Dörfer, die auch nur einem der gemarterten Namenlosen wieder Namen und ein menschliches Gesicht geben, können mehr tun, uns Gedächtnis und Gedenken zu bewahren, als manche Stunde trockenen Geschichtsunterrichts.“

Von der Nationalität zur Bestialität

Der Holocaust-Gedenktag erinnert an die Ausrottung der Menschlichkeit. Er erinnert daran, wie aus Humanität Nationalität wurde und aus Nationalität Bestialität. Und er erinnert daran, dass es heute eine Partei im Bundestag gibt, deren Fraktionsvorsitzender diese Bestialität als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet hat. In dieser Partei hat die alte Hitlerei eine neue Heimat, gewiss nicht bei allen, aber bei vielen, auch bei Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen. Die AfD hat das Land ungut verändert. Gewiss: Sie hat auch sichtbar und sagbar gemacht, was vorher schon da war. So mancher, der sich vorher zügelte, tut es nicht mehr.

Die Verharmlosung der Nazi-Gräuel ist der braune Faden der Partei. Sie ist ein Extremismus-Indiz. Es ist dort vom Großdeutschen Reich und von der „Umvolkung“ die Rede. Björn Höcke, der heimliche Führer der AfD, schmäht das Holocaust-Mahnmal in Berlin und der Kultur der Erinnerung an die NS-Opfer als „mies und lächerlich“. Die AfD will deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund aus Deutschland vertreiben und Flüchtlinge pauschal und radikal abweisen.

Ein Grundrechtsmissbrauch

Zu konstatieren ist die Braunwerdung der AfD – die sie in der Corona-Krise dadurch zu kaschieren versucht, dass sie angeblich besorgt auf die Grundrechte verweist, die sie sonst verachtet. Sie zieht sich die Grundrechtsartikel an wie einen Tarnanzug; das ist Grundrechtsmissbrauch. Tatsächlich rückt die AfD immer mehr dorthin, wo einst, weniger erfolgreich, die neonazistische NPD ihren Platz hatte. Aus einer rechtsbürgerlichen Partei wird eine nationalfaschistische.

Die Braunwerdung der AfD

Völkisches Getöse findet in dieser Partei Echo, die AfD wird brauner. Diese Braunwerdung der einstigen Anti-Euro-Partei ist nicht nur eine Befürchtung, sie ist nicht nur ein Verdacht, sie ist Tatsache – und deshalb ist es richtig, wenn, wie es geplant ist, der Verfassungsschutz künftig nicht nur bestimmte Teile der AfD, sondern die ganze AfD beobachtet. Es wäre dies praktizierte Erinnerung, es wäre eine tätige Mahnung, wenn der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz diese Beobachtung am 27. Januar, also am kommenden Mittwoch, ankündigen würde.

„Die AfD hat sich das Misstrauen des Verfassungsschutzes hart erarbeitet“, schrieb der Kollege Markus Balser in seinem Kommentar am Samstag auf Seite 4 der SZ: Nur formell ging die Partei konsequent gegen Rechtsextremisten vor. Der sogenannte Flügel wurde aufgelöst, doch dessen Mitglieder sind in der Mehrzahl weiter in der Partei aktiv – und zwar tonangebend. Dass AfD-Bundestagsbüros bei der Corona-Debatte rechtsradikale Störer ins Parlament einschleusten – es war dies der jüngste Höhepunkt vieler Radikalismen und Unverschämtheiten.

Die AfD wehrt sich vor Gericht dagegen, dass sie zum Verdachtsfall erklärt wird. Warum? Es wäre dies zugleich eine Warnung im großen Wahljahr: eine Warnung an die Wählerinnen und Wähler, nicht aus einem Augenblicksfrust heraus eine Rechtsdraußen-Partei zu wählen. Und es wäre dies eine Warnung an die CDU in den neuen Bundesländern davor, mit dieser Rechtsdraußen-Partei nach den anstehenden Landtagswahlen zu koalieren; es droht sonst braune Infektion.

Die Farben der deutschen Republik sind Schwarz-Rot-Gold, nicht Schwarz-Rot-Braun. Eine braune Infektion wäre nicht minder gefährlich als die mit Covid-19.

Ich wünsche uns allen, dass der Lockdown, der uns noch einige Zeit im Griff haben wird, die demokratische und die rechtsstaatliche Gesinnung nicht erfasst.

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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