Guten Tag,

der Unterricht des neuen Schuljahres hatte soeben erst wieder begonnen, da wurden zwei Schulen in Mecklenburg-Vorpommern wegen Corona schon wieder geschlossen. Betroffen sind ein Gymnasium und eine Grundschule. Am Gymnasium war eine Lehrerin positiv getestet worden. Sie hatte noch gar nicht unterrichtet, hatte aber mit Kolleginnen und Kollegen an einer Fortbildung teilgenommen. Ist es zu verantworten, deswegen alle Schüler nach Hause zu schicken? An der geschlossenen Grundschule war ein Schüler infiziert. Also: E i n Schüler ist infiziert, die ganze Schule ist z w e i Wochen lang geschlossen. Ist das verhältnismäßig? Ja? Wegen des Risikos? Wenn es künftig bei jeder einzelnen Infektion einen Schul-Shutdown gibt – dann besteht das viel größere Risiko darin, dass eine ganze Generation massive und nicht heilbare Verletzungen erleidet. Es geht nichts über Lernen in Gemeinschaft unter Anleitung. Der Shutdown ist kein Heilmittel, er ist ein Elend.

Ein gebrochener Mensch

Während ich dies schreibe, erreicht mich die unendlich traurige, zu Herzen gehende Mail eines lieben alten Kollegen, der mir berichtet, wie brutal ihn und seine Familie das Besuchsverbot in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen getroffen hat. Er klagt darüber, wie die Schwächsten in der Krise allein gelassen wurden: „Ich habe es selbst erlebt und durchlitten. Meine Frau hat am 6. März zum dritten Mal eine Hirnblutung erlitten, musste notoperiert werden. Nach vier Tagen auf der Intensivstation habe ich meine Frau nicht mehr besuchen dürfen. Auch in der Reha-Einrichtung gab es keine Besuchserlaubnis. Erst am 12. Mai konnte ich meine Frau für eine Stunde erstmals auf Abstand sehen. Sie verkroch sich fast unter der Bettdecke. Am 20. Mai kam sie in ein Pflegeheim und musste 14 Tage in Quarantäne. Danach war meine Frau endgültig ein gebrochener Mensch – eine schwere Erkrankung und fast vier Monate ohne Nähe zu mir und zu vertrauten Menschen. Sie schaute nur noch zur Wand und wollte nicht mehr sprechen.“

Die Folgen des Wegsperrens

Der Kollege berichtet auch von erheblichen Pflegemängeln in der Corona-Zeit: „Das waren die schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich habe mir schließlich ein Besuchsrecht erkämpft, aber wahrscheinlich zu spät, um meiner Frau gerecht zu werden. Ja, die Behörden waren unerbittlich und moralische Institutionen wie die Kirchen waren keine Hilfe, sie haben sich kleingemacht. Meine Frau ist nun auf dem Weg in eine Demenz und wird wohl nie mehr zu mir nach Hause zurückkehren können. Da ist nicht nur das Wegsperren während der Corona-Zeit schuld. Aber es hat den Vorgang sicher beschleunigt.“

Wenn man so etwas hört, wenn man so etwas liest, wird man rebellisch gegen die Automatismen und Rigorositäten der Shutdowns. Und man wehrt sich dagegen, dass das Elend, das die Kranken und die Alten getroffen hat, sich bei den Kindern, wenn auch in anderer Weise, wiederholt.

Grundschule und die Unterstufe weiterführender Schulen – das ist das goldene Lernalter; wenn diese Zeit nicht genutzt wird, das Gedächtnis zu füttern, lässt sich das nie mehr aufholen. In dieser Zeit wird die Kreativität fürs Leben entwickelt – mit Schreiben, Erzählen, Singen, Musizieren und Theaterspielen. Die Lust an Experimenten, der Forschungs-, Lern- und Wissensdrang muss in dieser Phase gekitzelt und befriedigt werden. Das funktioniert digital und im Homeschooling nicht oder nicht so gut.

Kontraproduktiv und konfliktträchtig

In der Phase, in der Kinder beginnen, sich vom Elternhaus zu lösen, ist das Lernen zu Hause mit den Eltern kontraproduktiv und konfliktträchtig; diese angespannte Atmosphäre mindert den Lernerfolg. Mit eigenständigem Lernen sind die meisten Schülerinnen und Schüler überfordert – das verlangt ja schon Erwachsenen eine besondere Disziplin ab. Viele Kinder verstehen den Lernstoff besser, wenn im Unterrichtsgespräch die anderen Kinder Fragen stellen, wenn sie gemeinsam lachen und lernen, wenn sie das Idiom der Fremdsprachen hören, statt zu Hause allein die Vokabeln anzuschauen. Theaterstücke werden im Klassenverband mit verteilten Rollen gelesen; zu Hause werden sie nur mit den Augen überflogen.

Folgekosten ausbleibenden Lernens

Der Online-Unterricht per Video ist im Übrigen – abgesehen von seinen sonstigen Nachteilen – während der Schulschließungen derzeit noch eher die Ausnahme als die Regel. Eine Befragung von Eltern schulpflichtiger Kinder in der ersten Aprilhälfte hat ergeben, dass nur sieben Prozent der Kinder täglich Unterricht durch Lehrkräfte über Videotools hatten. Bei rund 80 Prozent war dies seltener als einmal pro Woche der Fall. An Grundschulen gab fast die Hälfte der Lehrkräfte an, mit weniger als der Hälfte der Schülerinnen und Schüler regelmäßig Kontakt zu haben.

Diese Befragungen sind zitiert in einer Studie von Ludger Wößmann im ifo-Schnelldienst von Juni 2020; sie handelt im Zusammenhang mit Corona-bedingten Schulschließungen von den „Folgekosten ausbleibenden Lernens“. Die bildungsökonomische Forschung zeige, „dass jedes Schuljahr an zusätzlichem Lernen das Lebenseinkommen im Durchschnitt um zehn Prozent erhöht“. Daraus wird gefolgert, dass, wenn ein Drittel des Schuljahrs an Lernen verloren geht, dies ein um drei bis vier Prozent geringeres Erwerbseinkommen zur Folge hat – auf das gesamte Berufsleben gerechnet. Ausbleibender Schulunterricht, so die Wößmann-Studie, schmälert „die Kompetenzentwicklung und den künftigen Arbeitsmarkterfolg dauerhaft“. Die Studie konzentriert sich auf die wirtschaftlichen Auswirkungen von Schulschließungen. Die Folgekosten „aufgrund der Einschränkungen in der sozial-emotionalen Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen“ kommen hinzu.

Wenn der Schulweg und der Pausenweg fehlen, wenn sich die Kinder nicht treffen – dann findet ein großer Teil sozialen Lernens nicht statt. Bisher funktionierte das noch, weil die erste Hälfte des vergangenen Schuljahrs noch unter normalen Bedingungen stattfand. So konnte man darauf aufbauen, dass man sich innerhalb der Klasse kannte, dass man weitgehend auch die Lehrkräfte kannte; es war aber bereits für Lehrer, die erst während des Halbjahrs eine Klasse übernahmen, höchst schwierig, mit den Kindern eine Lern-, Arbeits- und Vertrauensbeziehung herzustellen. Sich um die einzelnen Schülerinnen und Schüler mit ihren Befindlichkeiten, Defiziten, Schwächen, Stärken und Potenzialen zu kümmern, ist ohne persönlichen Kontakt nicht möglich.

Unterricht mit halbem Gesicht

Und Masken? Darf es sein, dass Fünftklässler, die jetzt auf eine neue Schule kommen, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, ihre Lehrerinnen und Lehrer nur mit halbem Gesicht kennenlernen – wie dies jetzt in Nordrhein-Westfalen geschehen soll? Ich mag mir das nicht vorstellen. Masken bedeuten Pokerface, sie geben keine Information darüber, ob der andere wirklich verstanden hat, was ich meine, ob er mir gewogen ist, ob er was sagen will, wie es ihm geht. Lehrende und Lernende kommunizieren über den Gesichtsausdruck; sie sind auf die nonverbalen Kommunikationsformen angewiesen. Masken im Klassenzimmer, Masken im Unterricht bedeuten folgenschwere Kommunikationsreduktion.

Was muss an den Schulen geschehen? Um es kurz und bündig zu sagen: Der Schul-Shutdown ist eine einfallslose und schädliche Reaktion, der Gesichts-Shutdown im Unterricht auch. Es müssen stattdessen mehr Räume und mehr Pädagogen zur Verfügung stehen, auf dass kleinere Klassen gebildet werden können und die Kinder im Wechsel von Unterricht und Studierzeit unterrichtet und beaufsichtigt werden können. Kompetente Lehrkräfte sowie die nötigen Räume sind nicht von heute auf morgen zu beschaffen. Aber wenn es stimmt, dass wir mit der Pandemie werden leben müssen, dann muss man sich daran machen, dafür zu sorgen. Es geht um Kreativität und Phantasie in Corona-Zeiten. Das Geld, mit dem die Corona-Folgen bekämpft werden sollen, ist in den Schulen wunderbar angelegt.

Gute, erholsame Sommertage wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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