Guten Tag,

dieser Newsletter am heutigen Sonntag ist mein Sonett für den Sonntag. Dieser Newsletter ist die Aufforderung, den Sonntag vor der CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen und vor zwei bekennenden Katholiken an ihrer Spitze zu retten. Dieser Newsletter ist also eine Klage gegen Armin Laschet, den CDU-Ministerpräsidenten, und seinen CDU-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann. Die haben die Sonntage vor und nach Weihnachten zu verkaufsoffenen Sonntagen erklärt; sie begründen das mit Corona und erklären die Ladenöffnung zu einer seuchenpolizeilichen Maßnahme. Das ist sehr unehrlich und ziemlich perfide.

Laschets Zucker, Laumanns Zuckerl

Es geht in Wahrheit um Wirtschaftsförderung, also um Zucker für den darbenden Einzelhandel. Das ist grundsätzlich gewiss nichts Schlechtes. Allerdings würde diese ehrliche Begründung gegen die Sonntagsruhe verstoßen, die das Bundesverfassungsgericht 2009 juristisch geheiligt hat (damals ging es gleichfalls um verkaufsoffene Adventssonntage, nämlich in Berlin). Deshalb legt die NRW-Regierung die Ladenöffnung an Rhein und Ruhr nicht im Ladenschlussgesetz, sondern in der Corona-Schutzverordnung fest – obwohl diese Corona-Schutzverordnung, wie das Oberverwaltungsgericht Münster dazu erstaunt und süffisant festgestellt hat, derzeit nur bis 31. Oktober gilt, also nicht mehr in der Adventszeit. Das Oberverwaltungsgericht hat – und das ist durchaus ungewöhnlich – schon einen Tag nach der Ankündigung durch die Landesregierung „erhebliche Zweifel“ daran geäußert, dass die Neuregelung für Sonntagsöffnungen rechtmäßig ist.

Geht mit Corona fast alles?

Das nicht unberechtigte Kalkül der christlich-liberalen Laschet-Regierung lautet freilich: Wenn wir in die Begründung für eine Maßnahme „Corona“ schreiben, geht derzeit fast alles. Die Ladenöffnung, so die regierungsamtliche Begründung, stelle eine Maßnahme im Rahmen des Infektionsschutzes dar – weil die Ladenöffnung am Sonntag dazu führe, dass dann die Innenstädte an Werktagen nicht so voll seien und dadurch die Abstandsgebote besser eingehalten werden könnten. Das Gedränge in den Fußgängerzonen an Samstagen solle „entzerrt“ werden, sagt Gesundheitsminister Laumann. Das ist ein Argument wie von Schweinchen Schlau. Ob die Sonntagsöffnung zu einer Entzerrung führt? Dann sind halt die Innenstädte auch am Sonntag voll, weil das ja der Sinn der Sonntagsöffnungen ist. Und auf dass sie auch wirklich voll sind, wird man noch ein paar Sonntags-Events in die Innenstädte hineinstreuen.

Die NRW-Regierung hat mit ihrer Corona-Begründung gewiss den Einzelhandel auf ihrer Seite und wohl auch den derzeitigen gesellschaftlichen Mainstream – aber nicht die Gerichte. Die Politik scheint in der letzten Zeit mit den Gerichten „Herr und Hund“ spielen zu wollen. Sie wirft immer wieder Stöckchen, gibt Erlaubnisse für Ladenöffnungen, die dann von den Gerichten wieder zurückgeholt werden. Das Oberverwaltungsgericht Münster ist dieses Spiel offenbar leid und hat sich schon jetzt kritisch erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2009 in seinem Urteil zur Ladenöffnung an Adventssonntagen in Berlin unmissverständlich geurteilt: Das Sonntagsgebot beruhe auf einer historisch und verfassungsrechtlich fest abgesicherten Tradition. Anders gesagt: Es gibt ein Sonntags-Grundrecht, es gibt ein Grundrecht auf Achtung der Sonntagsruhe.

Am Sonntag arbeiten?

Das Karlsruher Urteil von 2009 war ein Urteil wider den wirtschaftsliberalen Zeitgeist und ein Urteil wider die Rundum-Ökonomisierung des Lebens. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts klang an manchen Stellen wie eine Paragrafenpredigt. Kritiker lasen es als einen juristischen Akt des christlichen Fundamentalismus. Das war sehr falsch. Fundamentalismus ist praktizierte Menschenfeindlichkeit. Das Sonntags-Urteil war und ist aber menschenfreundlich; es ist ein Akt des Gemeinsinns. Nur auf den ersten Blick ist es nicht sehr verbraucherfreundlich. Auf den zweiten Blick ist das anders; die Verbraucherfreundlichkeit eines offenen Sonntags würde bald bröckeln: Wer heute regelmäßig an Sonntagen einkaufen gehen kann, der wird morgen regelmäßig sonntags arbeiten müssen.

Nicht die Sonntagsruhe ist der Feind des Einzelhandels, sondern Amazon & Co und die Bequemlichkeit der Kunden, die ihre neue Hose lieber vom Sofa aus bestellen. Amazon hat die Gerichte beschäftigt mit dem Ansinnen, seine Angestellten an Sonntagen arbeiten zu lassen; man befürchte Lieferengpässe. Nein, sagte das OVG Münster auch hier, denn nur wenn ein Unternehmen unverschuldet in die Bredouille gerate, sei Sonntagsarbeit ausnahmsweise erlaubt. Die Sonntagsruhe erwies sich hier also als willkommener Schutz des Einzelhandels.

Das Sonntags-Grundrecht

Die Verfassungsrichter haben vor elf Jahren den Schutz des Sonntags mit zwei anderen Verfassungsartikeln verbunden: mit dem Schutz der Arbeitnehmer und mit dem Schutz der Familie. Sie haben das Sonntags-Grundrecht nicht neu erfunden, sondern es nur gefunden, sie haben es wiederentdeckt. Das Sonntags-Grundrecht war schon bisher existent, aber nicht einmal die Autoren der Jura-Lehrbücher haben es noch geachtet. Es lag verstaubt und vergessen auf dem Spitzboden des Verfassungsrechts; es stand also dort, wo sich Preziosen von einst als Trödel und Gerümpel stapeln, bis sie der Enkel der Oma findet und bei Ebay als „Dachbodenfund“ verkauft.

Beim Sonntags-Grundrecht handelt es sich tatsächlich um eine Antiquität, es mutet an wie das alte Katechismus-Sprüchlein „Der Sonntag ist der Tag des Herrn, am Sonntag ruh und bete gern“. So haben es die Urgroßeltern im Religionsunterricht gelernt. Und als verstaubter Verfassungssatz liest es sich so: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung rechtlich geschützt.“ Das steht eigentlich nicht direkt so im Grundgesetz, sondern im Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Dieser nun gut hundert Jahre alte Verfassungssatz ist freilich nicht mit der Weimarer Republik untergegangen, sondern durch Artikel 140 des Grundgesetzes dessen Bestandteil geworden. Außer den Kirchen und den Gewerkschaften weiß das kaum noch jemand. Die Verfassungsrichter haben 2009 diese Preziose nun nicht nur vom Dachboden geholt und entstaubt, sie haben sie poliert – und dann glänzend neu aufgestellt: nicht als Klimbim, sondern als Recht auf einen ruhigen Sonntag für jeden.

Das hektische Treiben

Es ergibt sich aus diesem Verfassungsartikel, so das höchste Gericht, nicht nur eine allgemein-unverbindliche Pflicht des Staates, den Sonntag zu achten. Es ergibt sich daraus ein Recht der Kirchen, der Gläubigen, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Familien und der Gewerkschaften, geschützt zu bleiben vor „ausufernden Ausnahmen“ von der Sonntagsruhe. Das Berliner Gesetz, das an allen vier Adventssonntagen vor Weihnachten die Ladenöffnung erlaubte, wurde von Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt, weil so der Ausnahmecharakter der Ladenöffnung am Sonntag nicht mehr deutlich werde: Das hektische Treiben, so die Richter, erfasse ja nicht nur die Läden selbst, sondern präge das ganze Straßenbild, so dass vier Wochen lang rund um die Uhr Alltag herrsche. Ladenöffnungen soll es nur an einzelnen Sonntagen geben dürfen, aber nicht an vielen Sonntagen hintereinander. Die Richter haben den Ländern dafür eine Formel an die Hand gegeben, sie lautet: werktags fast immer, gegebenenfalls auch rund um die Uhr, sonntags nur ganz ausnahmsweise. Rechtfertigt Corona, so lautet die Frage heute, ausnahmsweise eine solche Ausnahme?

Legitimiertes Innehalten

Es mag für manche rührend altmodisch klingen, richtig ist es trotzdem: Der Sonntag ist dadurch Sonntag, dass er anders ist als andere Tage. Es geht nicht nur um Tradition, um Religion und um eine soziale Errungenschaft. Es geht um die große gemeinsame Pause, um die Grundtaktung des Lebens. Natürlich darf es Ausnahmen von der Sonntagsruhe geben, die hat es auch immer gegeben, auch die Sonntagsarbeit für bestimmte Berufsgruppen. Aber wenn aus der Ausnahme die Regel wird, ist das schädlich. Das legitimierte Innehalten, das die gesetzliche Sonntagsruhe mit sich bringt, tut den Leuten gut. Das höchste Gericht hat daher einem Jeden das Recht auf einen ruhigen Sonntag gegeben. Man muss ihn nicht in Anspruch nehmen. Jeder kann damit machen, was er will. Aber es ist gut, dass es ihn gibt. Wenn es ihn nicht mehr gäbe, bräuchte man wohl sehr viel mehr Therapeuten – weil Unrast krank macht.

Die „Entfesselung“ des Sonntags

Die Regierung in Nordrhein-Westfalen ist eine Wiederholungstäterin. Sie hat schon einmal, im März 2018, im Landtag Gesetze durchgesetzt, die sie ein „Entfesselungspaket“ nannte. Kern der Gesetze mit diesem Blödnamen war die „Entfesselung“ des Sonntags. Der Sonntag sollte von seinen angeblichen Fesseln befreit werden. Gemeint war die Sonntagsruhe, gemeint waren die geschlossenen Geschäfte. Das Gesetz öffnete die Geschäfte in Nordrhein-Westfalen an acht Sonntagen; die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage verdoppelte sich damit. Das war das Ergebnis eines Geschäfts, das die CDU mit ihrem Koalitionspartner FDP gemacht hat. Die Kirchen hatten vergeblich zusammen mit den Gewerkschaften den Sonntag und die Sonntagsruhe verteidigt. Wenn es um das Regieren mit der FDP geht, gibt der CDU-Ministerpräsident Armin Laschet keine Ruhe.

Dann wird jeder Tag Werktag

Es geht um die Rettung des Sonntags. Es geht dabei nicht nur um Tradition und Religion. Die Kirchen wollen ihn als den Tag der religiösen Erhebung, die Gewerkschaften als soziale Einrichtung erhalten. Der Sonntag ist aber mehr; er ist nicht nur der freie Tag für den Einzelnen. Wäre er nur dies, dann wäre es egal, wer an welchem Tag seinen Sonntag hat; es wäre egal, ob man am Dienstag oder Donnerstag seinen Sonntag feiert. Der Sonntag, das macht ihn so wichtig und so unersetzlich, ist auch ein Tag der Synchronisation der Gesellschaft. Wird daraus ein individuell gleitender Tag, dann ist jeder Tag Werktag. Dann verschwindet ein Fixpunkt der Woche.

„Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung rechtlich geschützt.“ Das ist der geltende Verfassungssatz. Man kann und darf diesen nicht auf den Müll werfen – auch wenn heute, mehr als hundert Jahre nach seiner Formulierung, der Satz von der „seelischen Erhebung“ ein wenig altbacken klingt. Er ist es nicht.

Dies schreibt Ihnen – mit allen Wünschen für herrliche Oktoberwochen und ruhige Oktobersonntage

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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