Guten Tag,

der Bundespräsident wird da sein. Er wird in Hanau reden, er wird gedenken, er wird warnen. Er wird tun, was er kann. Er wird sagen, dass man nicht vergessen darf und dass die Wurzeln des Rechtsextremismus tief in unsere Gesellschaft hineinreichen. Er hat leider recht. Vor einem Jahr, am 19. Februar 2020, hat ein 43-jähriger Mann in Hanau zwei Bars angegriffen und neun Menschen (acht Männer und eine Frau) mit ausländischen Wurzeln erschossen. Er und seine Mutter wurden später in ihrer Wohnung tot aufgefunden.

„Geistiger Brandstifter“

Der Vater des Attentäters hat sich, das wurde vor ein paar Wochen durch den Spiegel bekannt, nach der Mordtat seines Sohnes provokant rassistisch geäußert und gefordert, ihm die Waffen seines Sohnes zurückzugeben. In einem Brief an den Generalbundesanwalt soll er geschrieben haben, dass die Rechte „seines Landes und seiner Familie“ verletzt worden seien. Eine „Wiederherstellung“ dieser Rechte werde „mehrere Menschenleben einfordern“. Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Mahnwache, die sich daraufhin vor sein Haus stellten, soll er als „wilde Fremde“ beschimpft haben. Angehörige der Opfer des Hanauer Attentats vermuten, dass dieser Vater der „geistige Brandstifter des Terroranschlags“ sei.

Der Täter hinter den Tätern

Das Hanauer Attentat vor einem Jahr war der dritte rechtsterroristische Anschlag in Deutschland innerhalb von neun Monaten – nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 1. Juni 2019 und dem Attentat in Halle am 9. Oktober 2019. Der Täter hinter den Tätern ist der Rassismus. Er ist das braune Virus, er ist das Virus R. Das Virus R. ist so gefährlich wie Corona. Es verdunkelt die Jahrhunderte. Es hat zig-Millionen Menschen das Leben gekostet; und es wütet immer noch.

Rasse: Das Wort tut wissenschaftlich, es ist aber nicht wissenschaftlich. Es ist der Rassismus, der den Begriff Rasse geschaffen hat. „Race does not exist, but it does kill people“, hat die französische Soziologin Colette Guillaumin formuliert. Rasse existiert nicht, aber Rasse tötet Menschen.

Vor bald zehn Jahren, am 4. November 2011, hat sich der NSU, der Nationalsozialistische Untergrund, selbst enttarnt. Eineinhalb Jahre später begann am Oberlandesgericht München das Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte, das im Juli 2018 mit der Verurteilung der Angeklagten endete. Untersuchungsausschüsse und sonstige Kommissionen sind eingesetzt worden, um Vorschläge zu machen, was sich ändern soll und was sich ändern muss und wie man das bewerkstelligen könnte.

Die Bilder in unseren Köpfen

In Erinnerung geblieben ist vor allem, mit welcher Vehemenz sich Polizeivertreter und der Bundesinnenminister gegen den Vorwurf verwahrten, bei der Polizei gebe es institutionellen Rassismus. Der Strafverteidiger Mehmet Daimagüler, der im NSU-Strafverfahren zwei Opferfamilien vertreten hat, macht der Polizei, den Behörden und der Politik heftige Vorwürfe: „Nach der Selbstenttarnung des NSU hat sich kein Polizeivertreter, kein Polizeigewerkschafter, kein Innenminister hingestellt und gesagt: Wir müssen uns fragen, wieso die Ermittlungen so fatal in die falsche Richtung laufen konnten. Wir müssen über die Bilder in unseren Köpfen sprechen und das Kopfkino insgesamt, das abläuft, wenn ein Opfer nicht ‚Schmidt‘, sondern ‚Turgut‘ heißt. Wir müssen über Racial Profiling sprechen, denn das, was geschehen ist, war ein postmortales Racial Profiling. Ein toter Türke, Kurde oder Grieche konnte nicht und durfte nicht Opfer sein, sondern lediglich ein potenzieller Krimineller. Man orientiert sich und trifft Entscheidungen auf Grundlage des Aussehens und des Namens.“

Man hätte, so der Anwalt Daimagüler, wenn man „postmortales Racial Profiling“ im Kontext des NSU thematisiert, „über das gegenwärtige und andauernde Racial Profiling unter den Lebenden sprechen müssen“.

Die Polizei – Spiegel der Gesellschaft?

Es hieß bei der Debatte über Rassismus in der Polizei entschuldigend, die Polizei sei halt ein „Spiegel der Gesellschaft“. Der Strafverteidiger widerspricht da vehement und empört: „Mit Verfassungsfeinden in der Gesellschaft werden wir mehr oder minder leben müssen. Mit Verfassungsfeinden in Uniform müssen wir aber nicht leben, können wir nicht leben und dürfen wir nicht leben.“ Seine Erfahrungen: Im NSU-Kontext sei klar zu erkennen gewesen, dass Polizeibeamte in ganz Deutschland, „überall dort, wo gemordet wurde, von Sekunde eins an rassistisch gedacht und rassistisch ermittelt haben. Am Ende wurden aus den Ermordeten keine Opfer, sondern Täter.“

Der Rechtsanwalt, ein Sohn türkischer Arbeitsmigranten, spricht von einem „System der Niedertracht“. Daimagüler wird am kommenden Donnerstag bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin reden – in einer „Bestandsaufnahme“, ein Jahr nach dem Attentat in Hanau. Sein Vorwurf: Der institutionelle Rassismus werde „bagatellisiert, auf Einzelfälle reduziert und einfach in Gänze bestritten“.

Das Huckepack-Virus

Das Virus R ist hochgefährlich. Es vergiftet auch die Institutionen, auch die Polizei. Es ist ein Huckepack-Virus. Es verbreitet sich leicht und lässt sich mit Vorliebe tragen: Gibt es Wohnungsnot, gibt es Arbeitslosigkeit, gibt es Gewalt – das Virus R springt von hinten auf, klammert sich an und verwirrt das Denken: Schuld an der Misere seien die Ausländer, die Flüchtlinge, die Juden.

So war es auch, als vor einem Jahr Corona nach Deutschland kam. Sündenböcke waren diesmal Menschen mit asiatischem Aussehen, die von wildfremden Menschen auf offener Straße mit „Corona, Corona“-Rufen traktiert wurden oder den Rat bekamen: „Dich sollte man mit Sagrotan einsprühen“. Der Psychologe Steven Taylor warnt deshalb davor, Epidemien einen Namen zu geben, die sich auf eine vermeintliche Herkunft des Verursachers beziehen.

Eine Impfung gegen den Rassismus

Es ist ein kleiner Beitrag zur Abwehr des Rassismus, dass das grassierende Coronavirus und seine Mutanten so schwer auszusprechende Namen tragen – Buchstaben- und Ziffernfolgen wie SARS-CoV-2 oder B.1.1.7. Diese Namen sind nicht rassistisch.

Aber ansonsten sind die Rassismen noch überall. Gegen den Rassismus ist unsere Gesellschaft noch nicht geimpft.

Wir brauchen einen Impfstoff gegen das Virus R. Das wünscht uns allen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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