Guten Tag,
Der kommende Dienstag ist ein wichtiger Tag in der Geschichte der Gleichberechtigung und Gleichstellung in Deutschland. Vielleicht ist es einer der wichtigsten Tage seit dem Jahr 1949. „Dieses Gesetz“, so steht es im Gesetzblatt für das Land Brandenburg vom 12. Februar 2019, „tritt am 30. Juni 2020 in Kraft“. Am kommenden Dienstag ist dieser 30. Juni.
Die Macht, gerecht verteilt – halbe-halbe
In Kraft tritt das erste deutsche Paritätsgesetz. In Kraft tritt ein Gesetz, das so umstritten war und ist, wie es 1918/19 im Reichstag das Frauenwahlrecht und wie es 1948/49 im Parlamentarischen Rat der Gleichberechtigungssatz war. Es ist ein Gesetz, das dafür sorgen soll, dass mehr Frauen in den Parlamenten vertreten sind – halbe-halbe. Wer sich weder als männlich noch als weiblich einstuft, muss – so das brandenburgische Gesetz – trotzdem festlegen, ob der eigene Name auf einem Listenplatz für Männer oder Frauen steht. Das kann man gewiss besser regeln.
Frauen sind in den Parlamenten noch immer – hundert Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts – unterrepräsentiert. Das Paritäts-Gesetz will erreichen, dass sich das ändert. Das Brandenburger Gesetz schreibt bei den Wahllisten ein Reißverschluss-System vor. Die Parteien werden verpflichtet, auf ihren Listen jeweils im Wechsel einen Mann und eine Frau zu nominieren. Wenn sie das nicht tun, ist die Liste ungültig. Ähnliche Gesetze sind in anderen Bundesländern in Arbeit – und werden heftig diskutiert. Für den Bundestag gibt es solche Vorschläge auch.
Aufspaltung des Staatsvolks?
Brandenburg war im Februar 2019 das erste Bundesland, das eine gesetzliche Frauenquote für die Wahllisten eingeführt hat. Im Juli 2019 folgte Thüringen. In Thüringen entscheidet nun am 15. Juli das Landesverfassungsgericht in Weimar darüber, ob das thüringische „Parité“-Gesetz verfassungsgemäß ist. Die AfD hat gegen das Gesetz geklagt: per Normenkontrollantrag will sie erreichen, dass die „Aufspaltung des Staatsvolks“ beendet wird. Das Urteil in Weimar – ganz gleich wie es ausfällt – wird nicht das letzte Wort sein. Das letzte Wort wird das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe haben.
Was wiegt mehr: Die Gleichberechtigung – oder die Freiheit der Parteien?
Es geht um eine juristische Abwägung. Also: Was zählt mehr, was hat größeres Gewicht: die Gleichberechtigung – oder die Freiheit der Parteien, zu der auch die Kandidatenaufstellung gehört? Da ist auf der einen Seite das an den Staat gerichtete Gebot, auf die „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen“ hinzuwirken und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile“, wie das bei der Verfassungsreform nach der Deutschen Einheit ins Grundgesetz geschrieben wurde. Da ist auf der anderen Seite die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Parteien sich nach ihrem jeweiligen Gusto zu organisieren und sich so der Wählerschaft vorzustellen. Ist die Gleichberechtigung wichtiger oder die freie demokratische Willensbildung?
11,7 Prozent bei der AfD, 58 Prozent bei den Grünen
Faktum ist: In keinem Parlament Deutschlands waren und sind Frauen seit 1919 gleichberechtigt vertreten. Jahrzehntelang lag der Frauenanteil im Deutschen Bundestag unter zehn Prozent, 1983 lag er bei 8,7 Prozent. Das verbesserte sich von 1987 an, als bei den Grünen und in der SPD parteienintern Quotenregelungen eingeführt worden waren. Nach der Wiedervereinigung stieg der Frauenanteil im Bundestag langsam, aber kontinuierlich an und erreichte 2013 mit 36,6 Prozent seinen bisherigen Höchststand. 2017 fiel der Frauenanteil jedoch mit 30,7 Prozent auf den Stand von 1998 zurück; es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Fraktionen: von 11,7 Prozent bei der AfD bis hin zu 58 Prozent bei den Grünen.
Das Parlament in Stuttgart – am frauenärmsten
In den Landtagen ist die Spannbreite sehr weit: Thüringen hat das frauenreichste Parlament mit einem Frauenanteil von 41 Prozent, das frauenärmste Parlament ist das von Baden-Württemberg mit einem Frauenanteil von nur 25 Prozent. Auf der kommunalen Ebene ist der Frauenanteil noch geringer als in den Landesparlamenten: Nur ein Viertel der Mandate werden von Frauen eingenommen. Und wenn man an die Spitze von Kommunen und Landkreisen schaut – da ist der Anteil von Frauen mit einem Zehntel der Bürgermeister*innen und Landrät*innen am geringsten. „Von einem stetigen Voranschreiten der Gleichberechtigung kann deshalb keine Rede sein, Frauen sind weiter im Nachteil“ – so urteilt die frühere Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt in einem Gutachten zu dem in Nordrhein-Westfalen geplanten Paritätsgesetz.
Der Deutsche Frauenrat konstatiert: „Unterrepräsentation“. Es brauche neue Rahmenbedingungen für eine bessere Vereinbarkeit von Amt, Familie und Privatleben; politische Arbeit müsse „familiengerechte und zeitbudgetschonende Partizipationswege schaffen und sich von der Dauerpräsenzkultur verabschieden“. Die „nachteiligen Strukturbedingungen belasten uns“, sagt Rita Süssmuth, die langjährige Präsidentin des Bundestags: Unzureichende Kinderbetreuungsplätze, Schul- und Arbeitszeiten, ungleiche Bezahlung und ungleiche Aufstiegschancen. Es sei ein „politischer Kulturwandel“ erforderlich. Parität, Parité – das sei mit gesetzlichen Vorschriften am besten zu erreichen.
„Parité“ – das Wort erinnert an Frankreich, wo schon im Jahr 2000 solche Paritäts-Gesetze erlassen worden sind; sie umfassen Regelungen zur Aufstellung von Kandidaten und Kandadatinnen bei den Wahlen zu Kommunal- und Regional- und Europawahlen, bei den Wahlen zum Senat und zur Nationalversammlung. Und Frankreich steht da nicht allein. Paritäts-Regelungen in Wahlgesetzen gibt es auch in Belgien, Spanien, Portugal, in Irland, Polen, Slowenien und in Griechenland. Die Gesetze sehen eine paritätische Verteilung der Listenplätze vor. Und bei den Direktkandidaturen sollen die Parteien quotierte Vorschläge machen – so dass Direktkandidatinnen und Direktkandidaten gleichermaßen, also halbe-halbe, berücksichtigt werden. Die Einzelheiten sind nicht unkompliziert. Es gibt da verschiedene Modelle. Bei Nichteinhaltung droht eine Kürzung der staatlichen Parteifinanzierung oder die Nichtzulassung zur Wahl.
Nach den Rercherchen des Deutschen Frauenrats sind die französischen Regeln erfolgreich: In den Regionalräten, Departementversammlungen und Kommunalvertretungen, deren Zusammensetzung über Listenwahlen beziehungsweise quotierte Direktmandate ermittelt werden, sei in weiten Teilen Parität erreicht. In der Nationalversammlung stieg der Frauenanteil 2017 auf 38,8 Prozent an.
Parität auf der Liste. Und bei den Direktmandaten?
Die beiden Paritätsgesetze, die in Deutschland schon in Kraft sind – also das Gesetz in Brandenburg und das in Thüringen – sehen Paritätsvorschriften nur für die Listenaufstellung vor. Parität auch bei den Direktmandaten war in Brandenburg ursprünglich geplant; der Plan wurde jedoch dann nicht realisiert. Bei den Direktmandaten ist der Frauenanteil noch geringer als bei den Listenmandaten. Im Bundestag verhält es sich derzeit so: Von den 410 über die Liste gewählten Abgeordneten sind 37,1 Prozent Frauen; von den 299 direkt gewählten Abgeordneten sind nur 21,1 Prozent Frauen.
Überlegungen zur Parität bei den Direktmandaten sehen vor, die Zahl der Wahlkreise zu halbieren – und dann in jedem Wahlkreis ein Duo aus Mann und Frau aufzustellen. Der Vorschlag geht so: Den Parteien wird aufgeben, nicht wie bislang eine Kandidatin oder einen Kandidaten je Wahlkreis, sondern geschlechtsgemischte Bewerber-Tandems aus Mann und Frau aufzustellen, die nur en bloc zur Wahl stehen. Man könnte dann mit der Erststimme nur ein Tandem aus Mann und Frau wählen – wobei der Gesetzgeber die Option eröffnen könnte, Mann und Frau entweder aus demselben Tandem oder aus verschiedenen Tandems und somit aus verschiedenen Parteien zu wählen. Ein Alternativmodell sieht vor: Man lässt die Wahlkreise so, wie sie sind – verpflichtet aber jede Partei, sowohl einen Mann als Direktkandidaten als auch eine Frau als Direktkandidatin aufzustellen; der Wähler entscheidet dann, wen er bevorzugt. Sowohl in Thüringen als auch in Brandenburg waren dem Gesetzgeber solche Vorschläge zu heikel.
Was ist von Paritäts-Gesetzen zu halten? Kritiker sagen: Gleichberechtigung ist ja ganz schön, aber man solle es doch bitte damit nicht übertreiben. Im Grundgesetz steht das freilich anders, und schon in der Weimarer Verfassung stand das anders. Aber das heimliche Jahrhundert-Motto der Politik lautet bis heute: Alles mit Maß – und das Maß ist männlich. So ist es, seitdem im Jahr 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Über „Gruppenrepräsentanz“ und über einen „Rückfall in ständestaatliche Verhältnisse“ klagen die Kritiker auch – und weisen darauf hin, dass doch jede(r) Abgeordnete, so das Grundgesetz, „Vertreter des ganzen Volkes“ sei.
Sind nur die Männer Vertreter des ganzen Volks?
„Gilt das nur für Männer?“, fragt die frühere Bundesverfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt spitz: Werden Männer ganz selbstverständlich für prädestiniert gehalten, das ganze Volk zu vertreten, auch die Frauen? Hohmann-Dennhardt kommentiert: „Wenn man diese Auffassung konsequent weiterdenkt, könnte man im Nachhinein zu dem Ergebnis kommen, es hätte der Einführung des Wahlrechts für Frauen gar nicht bedurft. Denn damit seien nur Tür und Tor für die gruppenspezifischen Interessen von Frauen geöffnet worden, wo doch die Männer wie schon immer das ganze Volk einschließlich der Frauen repräsentiert und die Interessen von allen vertreten haben.“
Das klingt ein wenig gallig. Aber der Gleichberechtigungsartikel im Grundgesetz realisiert sich nicht von selbst. Da bedurfte es immer und immer wieder der Nachhilfe des Bundesverfassungsgerichts. Ohne Erlaubnis ihres Ehemanns durften Ehefrauen bis in die sechziger Jahre hinein kein Bankkonto eröffnen. Und erst in den siebziger Jahren wurde das Gesetz gestrichen, wonach es für die Berufstätigkeit einer verheirateten Frau der Zustimmung ihres Mannes bedurfte. Da lacht man heute.
Vielleicht lacht man in dreißig Jahren auch über die Aufregung, die heute über Paritätsgesetze herrscht.
Einen möglichst unaufgeregten Sommer wünscht Ihnen
Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung