Guten Tag,

die Bildhauerei sei eigentlich, so hat es mir einmal ein Bildhauer erklärt, ganz einfach: Man müsse nur alles weghauen, was überflüssig ist, alles was stört und nicht passt. Der Satz, der auf Michelangelo zurückgeht, ist mir bei der Nachricht über den Ausschluss von Thilo Sarrazin aus der SPD wieder eingefallen – der freilich nicht „ganz einfach“ war, sondern zehn Jahre und drei Anläufe gebraucht hat. Nun ist es vielleicht angesichts des Zustands der SPD ziemlich weit hergeholt, die Partei mit einem bildhauerischen Kunstwerk zu vergleichen, aber so weit hergeholt auch wieder nicht.

Die Sozialdemokratische Partei ist schon etwas Besonderes: Sie war die erste, die größte und die erfolgreichste Bürgerinitiative der deutschen Geschichte; sie hat aus Proletariern Bürgerinnen und Bürger gemacht. Derzeit hat man zwar den Eindruck, dass die Zukunft der SPD schon länger her ist. Aber da kann man sich irren und vielleicht ist der Ausschluss von Sarrazin durch das oberste Parteischiedsgericht, ein kleines Indiz für neue Entschlossenheit und Klarheit – und eine Abgrenzung von den Sarrazinismen, die es an der Parteibasis der SPD durchaus gibt.

Sarrazins neobraunes Süppchen

Im Fall Sarrazin ging es im Übrigen nicht einfach nur darum, dass dieser Mann störte. Er hat der SPD sehr geschadet, indem er sein neobraunes Süppchen auf dem Herd dieser Partei kochte. Er verkaufte seine Bücher auch deswegen so gut, weil er als Autor mit dem Signet „SPD“ daherkam; als AfD-Autor wäre er einigermaßen unbekannt geblieben. Der Mann ist, so die Quintessenz seiner Bücher, ein islamophober Rassist. Das widerspricht der SPD-Programmatik fundamental. Die SPD musste es sich nicht gefallen lassen, dass Sarrazin mit seiner Parteimitgliedschaft kokettierte und warb.

Gegen den Ausschluss Sarrazins aus der SPD sprach allenfalls, dass die SPD früher einmal viel zu viele kritische Geister ausgeschlossen hat; das hat ihr nicht immer gut getan. Sarrazin war und ist aber nun nicht ein kritischer, sondern ein giftiger Geist. Die früheren Parteiausschlüsse waren Teil der Droh-, Streit- und Kampfkultur in der SPD. Und die Parteigerichte waren so etwas wie die heilige Inquisition der SPD. Zumal Herbert Wehner, der Zuchtmeister der Partei, hat die Disziplinar- und Ausschlussverfahren in den sechziger und siebziger Jahren ebenso rigoros wie virtuos betrieben, um die Abgrenzung der SPD zum Kommunismus immer wieder plakativ zu demonstrieren.

Droh-, Streit- und Kampfkultur

Das war Bildhauerei nach dem Bild, das er von der SPD in sich trug – beziehungsweise das er aus der SPD machen wollte. Die Ausschlussverfahren seiner Zeit sollten den Weg der SPD zur Mitte, zur Regierung und in die erste Große Koalition befestigen. „Wegen Ostkontakten“ – so steht es daher über ganz vielen Meldungen über SPD-Ausschlussverfahren aus dieser Zeit. Es wäre etwas sonderbar gewesen, wenn Sarrazin heute als Rechtsaußen-Mann davon profitiert hätte, dass die SPD einst zu viele Linke zu schnell ausgeschlossen hat. Wehner hätte einen Volksverhetzer wie Sarrazin schneller und kraftvoller aus der SPD relegiert, als es jetzt geschehen ist.

Mit dem aus der SPD ausgeschlossenen Sarrazin endet die Zeit, in der nationalistische und rassistische Hetzer beschwichtigend als „Wutbürger“ bezeichnet werden konnten. Dieser Begriff Wutbürger feiert in diesem Jahr seinen zehnten Geburtstag. Damals, 2010, waren damit erst einmal die Leute gemeint, die in Stuttgart gegen den Bau des neuen Mega-Bahnhofs demonstrierten. Es wurde dann Wort des Jahres – und von denen gekapert, die ihren Hass rauslassen, aber dabei bürgerlich wirken wollten. Ihre Animationsfigur war der SPD-Bürger Sarrazin. Als Prototyp des angeblich bürgerlichen Wutbürgers ist Sarrazin nach dem Parteiausschluss nicht mehr geeignet. Der Parteiausschluss ist auch ein Maskenentzug.

Von Rechtsaußen nach Rechtsdraußen

Kurz nach dem Parteiausschluss Sarrazins aus der SPD hat auch die AfD einen Parteiausschluss vollzogen. Das Bundesschiedsgericht der AfD hat den Rechtsextremisten Andreas Kalbitz ausgeschlossen, der früher Landes- und Fraktionschef in Brandenburg war. Es war dies eine Aktion, bei der vor allem der Lärm wichtig war, den das verursacht hat. Er soll davon ablenken, dass Kalbitz nur einer von einer ganzen Reihe Ultrarechten ist, die dabei sind, in der AfD die Macht zu übernehmen. Derweil Kalbitz ausgeschlossen wurde, schreitet nämlich der Personenkult um Björn Höcke, Kalbitz‘ Thüringer Bruder im Geiste, voran.

Die AfD rückte in jüngerer Vergangenheit so dramatisch schnell nach Rechtsdraußen, dass sich Extremisten von gestern auf einmal in der Mitte der der AfD wiederfinden. Der Ausschluss von Kalbitz soll nun die vielen anderen Radikalen der Partei als etwas erscheinen lassen, was sie nicht sind: gemäßigt. Es muss sich noch zeigen, ob der Ausschluss von Kalbitz ein Ablenkungsmanöver oder Teil eines echten Macht- und Richtungskampfes ist. Wenn Letzteres, dann wird das Schiedsgericht der AfD noch oft tätig werden müssen. 2019, auf dem AfD-Bundesparteitag in Braunschweig wurden die acht (!) hauptamtlichen Mitglieder des Bundesschiedsgerichts neu gewählt.

Eine verborgene Welt

Welche Rolle spielen Schiedsgerichte? Eine „verborgene Welt“ hat die Tagesschau vor kurzem diese Parteigerichte genannt. In der Tat: Kaum jemand kennt Namen wie Monica-Ines Oppel, Thorsten Jobs und Karl Friedrich Tropf. Oppel, Rechtsanwältin in Bayern, sie ist Präsidentin des AfD-Schiedsgerichts. Jobs, Vize-Chef der AsJ (Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen) leitet das Schiedsgericht der SPD. Tropf, Bundesrichter in Ruhe, sitzt dem Schiedsgericht der CDU vor.

Im Parteiengesetz werden die Parteien verpflichtet, solche „Schiedsgerichte“ einzurichten. Dort steht auch, wann ein Mitglied ausgeschlossen werden darf – dann nämlich, wenn das Mitglied der Partei „schweren Schaden“ zufügt. Es ist Ansichtssache, was ein schwerer Schaden ist; das hat mit dem Selbstbild zu tun, das die Partei beziehungsweise die entscheidenden und höchsten Parteigremien von sich und der Partei machen möchten. Je stärker eine Partei von einem bestimmten Programm und einer bestimmten Programmatik lebt, umso wichtiger sind Schiedsgerichte.

Gesinnungsvereine

Politische Parteien sind Gesinnungsvereine. Sie sind nicht die Stadtwerke, nicht ein Teil der Daseinsvorsorge, von der man nicht einfach abgeschnitten werden darf. Eine Parteimitgliedschaft ist etwas anderes als ein Wasser-, Strom- oder Internetanschluss. Eine Partei hat nicht die Pflicht, jedem, der den Beitrag zahlt, Anschluss zu gewähren. Deshalb haben Parteiausschlüsse bei den staatlichen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht regelmäßig Bestand; es ist nicht die Aufgabe von staatlichen Gerichten zu entscheiden, welche Gesinnung zu einer Partei passt – es sei denn, sie ist verfassungsfeindlich.

Dann, im Fall der Verfassungsfeindlichkeit, gehört diese Partei vom Bundesverfassungsgericht verboten. Seinerzeit bei der NPD hat Karlsruhe diese Chance verpasst. Deutschland stünde im Kampf gegen Neonazismus und Rassismus besser da, wenn das höchste Gericht getan hätte, was seine Aufgabe ist.

Einen möglichst erholsamen Ferienmonat August wünscht Ihnen, trotz Corona

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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