Guten Tag,

im Vatikan sitzt ein realistischer Träumer. In der kommenden Woche erscheint ein neues Buch von ihm, von Papst Franziskus. Die englische Ausgabe kommt am Dienstag auf den Markt, sie trägt den Titel „Let us dream“; die deutsche Ausgabe, sie ist ab Freitag zu haben, heißt „Wage zu träumen“. Das erinnert an die schön bebilderten Geschenk-Büchlein, die es mit diesem oder einem ähnlichen Titel schon gibt; sie nennen sich „Geh Deinen Weg“ oder „Pflücke den Tag“ und „Trau Deinem Herzen“. Aber Papst Franziskus ist kein Esoterik-Onkel. Er hängt seine Träume nicht als Kugeln an den Weihnachtsbaum. Und er kommt auch ohne Fotografien und ohne Spruchweisheiten aus.

Der Papst aus Lateinamerika rückt nicht ab von seiner Grundbotschaft gegen den Kapitalismus und den Marktradikalismus, die er schon an den Beginn seines Pontifikats gestellt hatte: „Diese Wirtschaft tötet.“ Vor wenigen Wochen hat er in seiner Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ eine Wirtschaftsordnung kritisiert, die Menschen für die Privilegien anderer opfert – und gegen die Gewaltformen angeschrieben, zu denen diese Art des Wirtschaftens führt. Er bezeichnet sie als Dritten Weltkrieg auf Raten; er führt dazu an: den Abbau der Gesundheitssysteme in vielen Ländern; die Aggressivität im Internet und den neuen Nationalismus, der mit dem universalen Gottesglauben nicht zu vereinbaren sei.

Die Post-Covid-Welt des Papstes

In seinem neuen Buch mit dem possierlichen Traum-Titel setzt Papst Franziskus diese Analyse fort, die nicht weniger als eine neue Weltordnung fordert; er verbindet sie mit Covid-19 und will „mit Zuversicht“ Wege aus der Corona-Krise zeigen. Er will zeigen, wie die Welt aussehen kann, wenn die Pandemie einmal vorbei ist. Der lateinamerikanische Papst plädiert mit Vehemenz für eine Neuausrichtung der Gesellschaft in der Post-Covid-Welt. Sein Buch, das auf Gesprächen mit dem Journalisten Austen Ivereigh basiert, ist zwar nicht literaturpreisverdächtig – aber dafür sehr konkret in seinen Forderungen, unter anderem dort, wo Papst Franziskus, fast schnörkellos, ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert.

Der Papst fordert ein bedingungsloses Grundeinkommen! Das ist, wie man so sagt, ein Hammer, das könnte auch die Debatte darüber in Deutschland befruchten. Schwierig wird es, wenn man die Details des bedingungslosen Grundeinkommens zu formulieren versucht, wenn’s also konkret wird – sie verlangen nach einer ad-hoc-Umstellung des ganzen Steuersystems. Zu schwierig? Eine starke Idee ist es trotzdem.

Ich mag diesen Papst, der sich nach dem beliebtesten und dem radikalsten aller Heiligen benannt hat, nach Franz von Assisi, nach einem Mann, der ein erbitterter Feind von Hab- und Raffsucht war. Der Sonnengesang dieses heiligen Franziskus, dieser paradiesische Lobpreis der Schöpfung, ist Gebet und Hit eines Jahrtausends. Nicht nur Christen, auch Juden, Muslime, Buddhisten und Hindus erweisen dem friedfertigen Franz von Assisi die Ehre – weil er jegliche Kreatur auf die anrührendste Weise geachtet hat. Und ein Ahnherr der Pazifisten ist der Heilige schon deswegen, weil er entwaffnend war.

Der Geruch von Geld und Macht

Warum kein Papst vor Papst Franziskus das Groß-Charisma dieses Heiligen genutzt hat? Nun ja – Franz von Assisi hat nicht gut gerochen. Er lief in einer dreckigen Kutte herum; als er seinerzeit bei seinem Papst auftauchte und ihn erfolgreich bat, die neue Ordensgemeinschaft zu bestätigen, hielt der sich die Nase zu und riet dem Franz, vor allem die Schweine zu missionieren. Der ärmliche Geruch des Franziskus vertrug sich nämlich nicht gut mit dem Geruch von Geld und Macht. Sein Name passt nicht zu Protz und Prunk und Reichtum. Er passt auch nicht zur Vatikan-AG, deren Vorstandschef der Papst ist. Das lässt die Vatikan-AG den Papst Franziskus immer wieder spüren und macht ihm das Leben und Wirken schwer.

Nun also das Grundeinkommen. Bei seinem Plädoyer dafür hat Franziskus die globale Perspektive; er argumentiert so: „Das Grundeinkommen könnte die Beziehungen auf dem Arbeitsmarkt umgestalten und den Menschen die Würde garantieren, Beschäftigungsbedingungen ablehnen zu können, die sie in Armut gefangen halten würden.“ Das Grundeinkommen würde „den Menschen die benötigte grundlegende Sicherheit geben, das Stigma des Wohlfahrtsstaates beseitigen und den Wechsel zwischen Arbeitsplätzen erleichtern, wie es technologiegetriebene Arbeitsweisen zunehmend erfordern“. Und das Grundeinkommen „könnte dazu beitragen, dass die Menschen dazu frei werden, das Verdienen des Lebensunterhaltes und den Einsatz für die Gemeinschaft zu verbinden“.

Corona, Malaria, Tuberkulose

Auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) hat das Grundeinkommen schon gefordert: In den ärmsten Ländern der Erde leben sieben von zehn Arbeiterinnen und Arbeitern von informeller Arbeit, bei der sie keine Ansprüche auf Sozialhilfe haben. Wenn sie wegen Covid-19 ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen dürfen, stehen sie vor dem Nichts. Missachten sie in ihrer Not die Lockdown-Regeln, würden die Infektionszahlen furchtbar steigen. In Asien und Afrika wird mit Millionen Hungertoten gerechnet, da Tagelöhner oder Verkäufer am Straßenrand keine Arbeit und kein Auskommen mehr finden.

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO geht davon aus, dass die Einkünfte in Afrika und Lateinamerika im globalen Shutdown um 82 Prozent einbrechen, am stärksten, am schlimmsten bei Frauen und jungen Menschen. Und an Hunger, Armut und Krankheiten infolge der Maßnahmen gegen Corona könnten am Ende mehr Menschen sterben als an dem Virus selbst. Es fehlt an Geld für die Vorsorge gegen Malaria, Tuberkulose und andere endemische Krankheiten.

Die Angst um die eigene Existenz stiftet Panik

Corona bringt neue Argumente in die Grundeinkommensdebatte auch in Deutschland, weil Corona so vielen Menschen – zumal im Bereich der Kultur – die Arbeits- und Lebensgrundlage entzogen hat. Der Charme der Utopie vom bedingungslosen Grundeinkommen liegt in seinem Menschenbild. Seine Befürworter rechnen weniger mit der Faulheit des Menschen als mit der Freude eines Jeden daran, zu arbeiten, sinnvolle Dinge zu tun, kreativ zu sein und sich nützlich zu machen für die Allgemeinheit.

Die Gefahr, dass die Menschen das Geld versaufen, dass sie es für Drinks und Drogen ausgeben, ist gering. Warum? Es ist den Menschen eigen, tätig zu sein. Tätig sein kann aber nur, wer einen freien Kopf hat. Was das Denken am meisten behindert, ist die Angst um die eigene Existenz, sie stiftet Panik und sie lähmt. Schön nachzulesen ist das in einem vor ein paar Jahren bei Eichborn erschienen Essay, das Götz Werner, der Drogeriekettenmann, zusammen mit den Finanzfachleuten Marc Friedrich und Matthias Weik geschrieben hat: „Sonst knallt’s. Warum wir Wirtschaft und Ethik radikal neu denken müssen“. Papst Franziskus gehört zu den radikalen Neudenkern, die sich vom Argument angeblicher Unfinanzierbarkeit nicht erschrecken lassen.

Das könnte den Kapitalisten so passen

Ich bin selbst, was das bedingungslose Grundeinkommen in Deutschland betrifft, nicht ohne Skepsis. Es darf nicht zum unbekömmlichen Einkommen werden. Es darf nicht helfen, den Arbeitsmarkt dem Spiel der Kräfte zu überlassen und womöglich in die soziale Verrohung führen. Ich habe bisher befürchtet, dass es die Wirtschaft dem exzessiven Wettbewerb ausliefert und daneben etwas Wattiges etabliert; dass also der Umstieg von der analogen in die digitale Arbeitswelt mit dem bedingungslosen Grundeinkommen an der Seite in eine umfassende und totale Wettbewerbsgesellschaft führt – was den Kapitalisten so passen könnte: Das bedingungslose Grundeinkommen als Ausrede und Argument und Reservat, um ansonsten den digitalen Wilden Westen zu etablieren.

Im Lichte der Corona-Krise gewinne ich Sympathie für ein Grundeinkommen: Es wäre eine schnelle und substanzielle Hilfe für diejenigen, die unter der Krise am meisten leiden – zumal eine Hilfe denen, die in den Bereichen von Kunst und Kultur arbeiten und in der Corona-Zeit praktisch keine Arbeitsmöglichkeiten haben. Ihnen ist mit einem bedingungslosen Grundeinkommen ganz unbürokratisch geholfen, viel besser als mit den vielen Förderprogrammen, die jetzt aufgelegt werden. In der Vision eines bedingungslosen Grundeinkommens für jedermann ist die Überzeugung enthalten, dass der Mensch sich seine Existenz nicht verdienen muss. Er hat ein Recht auf das Lebensnotwendige: Einfach weil er Mensch ist und weil er was zu essen braucht – und nicht, weil er arbeitet oder zumindest seine Bereitschaft zu arbeiten unter Beweis stellt.

Es geht darum, das Gegebene zum Besseren zu wenden. Ludwig Marcuse sagt: „Das Traurige an unserer Zeit ist nicht, was sie nicht erreicht, sondern was sie nicht versucht. Im Versuchen aber liegt der echte Idealismus.“

Die drei Covids des Papstes Franziskus

In Corona-Zeiten gilt das mehr denn je. Papst Franziskus gibt in seinem Buch im Übrigen nicht nur Einblick in sein Denken, sondern auch in sein Leben, in seine persönlichen Krisen, „seine Covids“, wie er sie nennt. Die erste Krise war seine schwere Erkrankung als 21-Jähriger, seine zweite in der Zeit, als er nach Deutschland gegangen war, um Material für seine Doktorarbeit zu suchen und er sich dort „völlig fehl am Platz fühlte“: Er ging damals immer wieder auf den Friedhof in Frankfurt, „um von dort den Flugzeugen beim Starten und Landen zuzusehen, voller Heimweh“.

Sein drittes Covid erlebte er zwischen 1990 und 1992 in Cordoba, wohin sein Orden ihn in eine Art Lockdown geschickt hatte. Damals hat er „ausgerechnet“ alle 37 Bände von Ludwig Pastors „Geschichte der Päpste“ gelesen. Franziskus sinniert: „Ich hätte ja auch einen Roman oder etwas anderes Interessantes lesen können. Aber wenn ich von heute aus zurückdenke, dann kann ich gar nicht anders als mich fragen, warum mich Gott zur Lektüre inspiriert hat. Es war, als ob Gott mich mit einer Art Impfung vorbereitet hätte. Wenn du einmal diese Papstgeschichte kennst, dann kann dich wenig von dem, was im Vatikan und der Kirche heute passiert, noch schockieren. Es hat mir sehr geholfen!“

So hat sich Franziskus auf seine Zeit als 266. Oberhaupt der katholischen Kirche vorbereitet. Vielleicht finden Sie im Lockdown auch eine Lektüre, die Ihnen für Ihr weiteres Leben hilft.

Das wünscht Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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