Guten Tag,

in letzter Minute haben sich die EU und Großbritannien auf ein Handelsabkommen geeinigt. Das war bitter notwendig und das war nach der elend langen Verhandlerei spektakulär. Man wünscht sich die Entschlossenheit, zu einem guten, wenigstens zu einem erträglichen Ergebnis zu kommen, auch in der Flüchtlingspolitik. Die letzte Minute ist da schon lang vorbei.

Denn die Entschlossenheit der EU geht hier nicht in eine gute, sondern eine furchtbare Richtung. Es ist die Entschlossenheit, nichts Gutes zu tun: Es soll tunlichst nichts passieren, um die grauenvollen Zustände in Flüchtlingslagern in der Ägäis nachhaltig zu verbessern. Die Zustände dort sollen abschreckend und hoffnungslos bleiben. In den gefängnisartigen Lagern leben die Flüchtlinge im Dreck. In Moria 2 stehen viele Zelte unter Wasser; überall ist es voller Schlamm. Die hygienischen Bedingungen, die Versorgungs- und die Sicherheitslage im Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos sind zum Erbarmen; nachts wurde dort ein dreijähriges Kind vergewaltigt. Im Lager Vathy auf Samos werden die Babys und Kleinkinder von Ratten gebissen; die Tetanusimpfung durch Hilfsorganisationen ist dann das Weihnachtsgeschenk.

Unrecht, Unsicherheit, Frechheit

Es könnte Hilfe geben, aber es soll sie nicht geben, weil Europa das nicht will. Die Lager sollen Orte der Abschreckung bleiben. Die EU nennt sich Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit. Freiheit? In den Flüchtlingslagern sind Unrecht und Unsicherheit so groß, dass man von einer schandbaren europäischen Frechheit reden muss. Es gibt in der Flüchtlingspolitik einen Lockdown der Menschlichkeit.

Gerd Müller, Bundesminister für Entwicklungshilfe, hat von den Rattenbissen im Flüchtlingslager berichtet. Mir ist dabei eine der ergreifendsten Erzählungen der Nachkriegszeit eingefallen, Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“ aus dem Jahr 1947. Sie spielt am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Trümmern einer deutschen Großstadt: Der neunjährige Jürgen wacht seit Tagen, mit einem Stock in der Hand, in den Ruinen eines Hauses. Sein vierjähriger Bruder liegt tot unter den Trümmern, von einer Bombe getötet. Von seinem Lehrer hat Jürgen erfahren, dass Ratten Leichen fressen; er will das verhindern.

Hoffnungsvoll, hoffnungslos

Ein fremder alter Mann kommt mit ihm ins Gespräch, hat Mitleid mit dem übernächtigten und halb verhungerten Jungen. Der Mann greift zu einer Lüge und versichert Jürgen, dass die Ratten nachts schlafen und er deshalb jetzt nicht auf seinen toten Bruder aufpassen müsse. Er bietet dem Jungen an, bei ihm etwas zu essen und dann zusammen mit ihm für ein Kaninchen, das er ihm schenkt, einen Stall zu bauen. Der Mann versucht, das traumatisierte Kind langsam wieder ins Leben zurückzuführen. Ob es ihm gelingt, sagt die Geschichte nicht. Es ist trotzdem eine hoffnungsvolle Geschichte. Die Geschichte der EU-Flüchtlingspolitik ist hoffnungslos. Die Europäische Union unternimmt nicht einmal den Versuch, den traumatisierten Kindern zu helfen. Die Ratten in Europa schlafen nachts nicht.

Hornhaut auf der Seele

Corona hat die Aufmerksamkeit von den Flüchtlingen wegkonzentriert. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind ein Hohn auf die EU-Grundrechte-Charta und die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Flüchtlinge werden dem Dreck, dem Coronavirus, den Ratten und dem offenen Meer überlassen. Die EU-Staaten haben alle Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer eingestellt. Die Türkei und Griechenland spielen Wasser-Ping-Pong mit den Flüchtlingsbooten; Frontex, die europäische Grenz- und Küstenwache, schaut dabei zu oder spielt mit. Bundesinnenminister Horst Seehofer schreibt Briefe, um die private Seenotrettung – die unter anderem von der Evangelischen Kirche finanziert wird – zu torpedieren. Corona hat offenbar auch eine Hornhaut über die christsoziale Seele wachsen lassen.

Soeben ist ein Boot mit 37 Migranten an Bord vor der Küste Tunesiens gesunken; 20 Menschen ertranken, darunter 19 Frauen, vier davon schwanger. In der Woche vor Weihnachten seien vier Kinderleichen in Libyen angespült worden, berichtet die Hilfsorganisation Sea-Eye. Ihr Hilfsschiff heißt Alan Kurdi. Es ist benannt nach dem zweijährigen syrischen Flüchtlingskind, dessen Leichnam im September 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Die Bilder des toten Kindes am Strand erregten damals weltweites Aufsehen. Und heute?

Das Fest der unschuldigen Kinder

Am 28. Dezember begeht die Kirche seit vielen Jahrhunderten das „Fest der unschuldigen Kinder“. Es erinnert an den Tag, an dem laut Bibel König Herodes die Kinder von Bethlehem töten ließ – in der Hoffnung, dabei auch das Jesuskind zu erwischen, das er als Gefahr für seine Herrschaft betrachtete. Dieser Tag und das Brauchtum, das sich damit verbindet, gehören zur Weihnachtszeit.

Die unschuldigen Kinder leben heute in den Flüchtlingslagern. Das wirkliche Weihnachten ist in unseren Zeiten dann, wenn sie gerettet werden; wenn „Der Retter“ wirklich kommt – und er nicht nur im Weihnachtslied besungen wird.

Ich wünsche Ihnen, trotz aller Corona-Beschwernisse, eine gute Weihnachtszeit, eine stärkende Zeit zwischen den Jahren. Und ich wünsche mir und uns, dass der Lockdown der Menschlichkeit in der Flüchtlingspolitik beendet wird.

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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