Guten Tag,

der Name „Moria“ steht nicht erst heute für ein furchtbares Geschehen. Er steht für die Praxis des Menschenopfers und zugleich für dessen Abschaffung. Moria ist der Ort, an dem ein Vater seinen Sohn töten will – weil der Gott dies befiehlt. Der Vater ist Abraham, der Urvater und Namensgeber der abrahamitischen Weltreligionen; deren Urmythos ist die Erzählung von der „Bindung Isaaks“. In der christlich-jüdischen Variante findet man die grausige Geschichte im Buch Genesis: Abraham soll zur Prüfung seines Gehorsams in Moria seinen Sohn Isaak töten – als Brandopfer, als Menschenopfer.

Kinder opfern, um Gott zu befrieden

Abraham folgt der göttlichen Stimme; er hat seinen Sohn schon festgebunden auf den Holzscheiten und hebt das Messer – da öffnet sich der Himmel: „Leg deine Hand nicht an das Kind und tu ihm nichts“, ruft ein Bote Gottes im letzten Moment und macht so dem schaurigen Spuk, der angeblichen Gehorsamsprüfung, ein Ende. So sadistisch diese Geschichte anmutet, wenn man sie von ihrem Anfang her sieht, so humanisierend ist sie, wenn man sie von ihrem Ende her betrachtet. Religionsgeschichtlich markiert diese Erzählung einen Wandel im Gottesbild, nämlich die Abkehr von einem Gott, dem man Kinder opfern muss, um ihn zu befrieden.

Es ist eine Geschichte, die empört und beunruhigt und provoziert, für heutige Leser wirkt sie archaisch und aus der Zeit gefallen. Sie ist aber nicht so aus der Zeit gefallen, wie man meint: Auch heute sind Menschen bereit, für einen Gott, für eine Religion, für eine höhere Sache Menschen zu opfern. Der fanatische Fundamentalismus handelt genau davon.

Ersetzen wir das Wort Gott durch ein anderes – durch das Wort „Realpolitik“ zum Beispiel, oder durch das Wort „Sachzwänge“: Es gibt eine Politik, die den Tod von Menschen wegen angeblicher Sachzwänge, wegen höherer Interessen in Kauf nimmt. Diese Politik heißt Flüchtlingspolitik. Sie wird exekutiert im Mittelmeer. Die Zahl der Flüchtlinge, die dort ertrinken, steigt und steigt. Es sind hier aber nicht, wie bei Corona, die Rettungsmaßnahmen alternativlos, sondern, so vermittelt es die Politik, das Elend und das Sterben.

Der Himmel hat sich nicht geöffnet

Das Moria von heute liegt auf der Insel Lesbos, ein riesiges Flüchtlingslager ist dort soeben abgebrannt, die Flüchtlinge sind obdachlos, zum Teil nächtigen sie auf dem Friedhof. Der Himmel hat sich aber nicht geöffnet. Es gibt keine Rettungsaktionen, die diesen Namen verdienen. Es gibt keine Hilfe, die diesen Namen verdient. Es gibt das Versprechen von Deutschland und Frankreich, ein paar hundert Kinder aufzunehmen. Moria ist ein Lager, das der Abschreckung dient – dort werden Flüchtlinge, Familien, Kinder der Abschreckung geopfert.

Refugee lives don’t matter: Das ist das heimliche Motto der Flüchtlingslager in der Ägäis. Im Lager Moria leben (lebten muss man nach dem großen Brand dort sagen) zwanzig- oder dreißigtausend Menschen unter unbeschreiblichen Zuständen: einen Wasserhahn für jeweils Tausende. Versprechungen der deutschen Politik, wenigstens ein winziges Kontingent von Kindern und Jugendlichen von der Insel nach Deutschland zu holen, sind nicht neu, die gibt es nicht erst, seitdem Moria abgebrannt ist. Die gab es schon vor Monaten. Sie wurde nicht oder nur zögerlichst erfüllt. Man überließ die Flüchtlinge dem Dreck, dem Virus, dem offenen Meer – zur Abschreckung.

Fanal der Verzweiflung

Wie gesagt: Das Moria von heute liegt auf der Insel Lesbos. Es hat gebrannt, der Brand hat die Blicke, aber auch die Gehässigkeiten nach Moria gelenkt: Wahrscheinlich waren es, so sagt es die griechische Regierung und so wiederholen es genüsslich die extremistischen Populisten in ganz Europa, Flüchtlinge, die das Lager angezündet haben.

Wenn es wirklich so gewesen sein sollte – dann war es ein Fanal der Verzweiflung. Darf man deswegen die Hilfe verweigern, eine Hilfe, die obdachlose Familien, die verzweifelte Kinder bitter nötig haben? Darf man, wenn es so war, den Brandstiftern sagen: selber schuld? Schickt man bei einer Massenkarambolage, die ein betrunkener Autofahrer verursacht hat, die Rettungswägen nicht? In der Stunde der Not fragt man nicht, wie jemand in diese Not gekommen ist. Man hilft – so gut es nur geht. Danach, wer den Schaden angerichtet hat, fragt man später.

Von Rembrandt bis Salvini

Die alten Moria-Bilder, von der Opferung des Isaak, hat Rembrandt gemalt, sie hängen in der Eremitage von Sankt Petersburg und in der Münchner Alten Pinakothek. Im Kölner Dom gibt es ein großes Mosaik davon. An Kloster- und Kirchenportalen findet man Reliefs. Heute gibt es die Bilder in den Fernsehnachrichten – Bilder vom brennenden Flüchtlingslager Moria. Moria heute. Matteo Salvini, ein Politiker der rechtsradikalen Lega Nord, er war von Juni 2018 bis September 2019 italienischer Innenminister und stellvertretender Ministerpräsident, hat mit brutal-populistischer Offenheit gesagt, worum es ihm bei der Flüchtlingspolitik geht: um „Menschenopfer“, zur Abschreckung.

Viele andere europäische Politiker denken das auch. Sie sagen das nur nicht so brutal. Und sie verweigern sich einer großen Hilfsaktion für die obdachlosen Flüchtlinge des Lagers Moria, weil sie fürchten, dass solche Hilfe neue Flüchtlinge anlocken könnte. Deswegen blieben die Bitten, die Forderungen von Teilen der deutschen Bürgergesellschaft, die Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, unerhört. Die Hilfsbedürftigen werden Mittel zum abschreckenden Zweck. Ihnen wird nicht geholfen, sie werden in den Dreck getreten. Die Regierungspolitik, zumal die der Christlich Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union, fürchtet sich vor der AfD und deren Agitation. Diese Furcht ist größer als der Respekt vor den Grundsätzen der Menschlichkeit.

Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge wären – so habe ich es in meinem Newsletter vom 9. März 2020 geschrieben („Warum die Zustände in den Lagern auf Lesbos und Kos völlig intolerabel sind und warum wir Menschen in Not aufnehmen müssen“, hieß damals die Überschrift). Aus aktuellem Anlass ist dieser Satz zu spezifizieren und zu präzisieren. Also: Handeln wir so, wie wir behandelt werden wollten, wenn wir Flüchtlinge im abgebrannten Flüchtlingslager Moria wären.

Grundstein der Unmenschlichkeit

Wir würden nicht wollen, dass wir mit der Aussicht auf angebliche europäische Lösungen abgespeist werden. Die Rede von den europäischen Lösungen, vom angeblichen europäischen Verantwortungszusammenhang, gibt es nun schon seit 25 Jahren. Damals hat der Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) die Richter des Bundesverfassungsgerichts damit eingewickelt und sie auf diese Weise daran gehindert, die Einschränkungen des Asylgrundrechts zu verwerfen.

Die europäischen Lösungen existieren nicht, sie stehen nicht in Aussicht. In Aussicht steht nur, dass Europa an den EU-Außengrenzen Lager nach dem Muster von Lesbos einrichtet: Abschreckungslager. Solche Lager sind keine Hilfe, sie sind eine Schande. Es ist bitter, wenn ausgerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft der Grundstein dafür gelegt wird.

Ich wünsche uns ein offenes Herz und zupackende praktische Menschlichkeit. Wir schaffen das.

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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