Guten Tag,

Deutschland war ein Trümmerhaufen, München eine Schutthalde; es gab noch kein Grundgesetz, es gab noch keine Landesverfassung, es gab nichts zu essen und es gab wenig Zuversicht. Die Heimkehrer aus dem Krieg hatten das Gefühl, dass es kein Zuhause mehr gibt. Zu Hause – das waren Gestank, Schwarzmarkt, Hunger, Diebstahl, Faustrecht und Betrug. Das war in Köln so und in Berlin, in Hamburg, Hannover, Dresden, Kassel und München. Im Inneren der Menschen setzte sich die äußere Verwüstung fort; die Zukunft war ein bombentrichtergroßes Loch. Es war dies die Zeit, von der der Schriftsteller Heinrich Böll schrieb, dass manche Menschen es nur allmählich wagten, das Leben, ihr Leben wieder anzunehmen. Es gab freilich auch die anderen Überlebenden, die mit dem abwaschbaren Gewissen, die das Kunststück fertigbrachten, vor, in und nach der Nazikatastrophe politisch richtig zu liegen.

Mitwirken „an der geistigen Umgestaltung Europas“

In dieser Zeit erschien die Süddeutsche Zeitung zum ersten Mal. Vor 75 Jahren liefen die letzten Vorbereitungen. Am 6. Oktober 1945 wurde die erste Ausgabe der Süddeutschen Zeitung verteilt – sie hatte acht Seiten. Erscheinungsweise des neuen Blattes: zunächst nur zweimal in der Woche, es herrschte Papierknappheit. Die drei Gründerväter der SZ – Edmund Goldschagg, Franz Josef Schöningh und August Schwingenstein – hatten die Lizenz Nummer 1 der Militärregierung Ost erhalten. Die SZ war somit die erste deutsche Zeitung, die in Bayern mit Genehmigung der Amerikaner publiziert wurde. Die Zeitung wollte, so versprach es die erste Ausgabe, „als Stimme einer freiheitlichen Gegenwart all jenen jungen Kräften offenstehen, die an der geistigen und kulturellen Umgestaltung Europas mitwirken wollen.“ Nach zwölf Jahren Lüge, so hieß es weiter, wolle die Zeitung beweisen, „dass noch echte demokratische Gesinnung in Deutschland lebt.“ Das formulierte einen hohen, einen sehr hohen Anspruch.

Aus gegebenem Anlass schreibe ich daher in meinem heutigen Newsletter über meine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung – und darüber, was guter Journalismus ist. Guter Journalismus, so meine ich, ist ein Journalismus, bei dem die Journalistinnen und Journalisten wissen, dass sie eine Aufgabe haben, und dass diese Aufgabe mit einem Grundrecht zu tun hat: Artikel 5 Grundgesetz, Pressefreiheit. Nicht für jeden Beruf gibt es ein eigenes Grundrecht, genau genommen nur für einen einzigen.

Klicks, Reichweite, Auflage – und Vertrauen

Umfragen über das Image von Journalisten fallen nicht sehr glänzend aus: Es ist nicht so gut, wie es sein müsste, und nicht so schlecht, wie es sein könnte. Der Journalismus darf der Aufgabe, die er in der demokratischen Mediengesellschaft hat, nicht nur numerisch nachkommen; Journalismus ist eine qualitative Aufgabe. Wenn Journalismus Qualität hat, ist er auf Imagekampagnen nicht angewiesen: Er braucht gute Journalisten. Ein Journalismus, dem die Leute trauen und vertrauen ist heute, im Jahr 2020, so wichtig wie damals, 1945. Die große Frage lautet nicht: Wie schafft man Klicks, Reichweite, Auflage? Die große Frage lautet: Wie schafft man Vertrauen? Dann kommen auch Klicks, Reichweite und Auflage.

In München geboren, in der Welt zu Hause

Schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist die Süddeutsche Zeitung im britischen Unterhaus als eine „der Säulen der Demokratie in Deutschland“ bezeichnet worden. Ihr gelang es, viele der guten und nicht wenige der besten deutschen Journalisten zu versammeln. Hans Habe, der Schriftsteller und Journalist, stellte die erste Wochenendbeilage zusammen, Karl Valentin schrieb Geschichten im Lokalteil. Die Zeitung begleitete die Entnazifizierung, die Demokratisierung, das Wirtschaftswunder. Sie entwickelte sich zum nationalen Blatt, sie warb mit dem Motto: „In München geboren, in der Welt zu Hause“.

Ein besonderes Kennzeichen der Zeitung ist das Streiflicht – nicht ganz von der ersten Ausgabe an, aber fast. Seit 1946 steht das Streiflicht auf der ersten Seite, erste Spalte, links oben. Das Streiflicht ist das Revers der Zeitung, „die Nelke im Knopfloch“, so hat einmal jemand über diese tägliche Glosse gesagt. Wer wissen will, was die Süddeutsche Zeitung ausmacht, der muss das Streiflicht lesen. Dort spürt man den Geist der Zeitung besonders; und vielleicht auch, warum sie so erfolgreich geworden ist. Die Glosse ist eine Sonderform des Kommentars – und damit sind wir bei meinem Lieblingsmetier.

Der Professor und die Standlfrau

Vor Jahren – ich hatte die Theodor-Herzl-Vorlesungen „zur Poetik des Journalismus“ an der Universität Wien zu halten – habe ich versucht, meine Ansprüche an die Zeitung zu formulieren, in deren Redaktion ich zum Jahresanfang 1988 eingetreten bin: „Sie ist ein Blatt, das Reportagen, Analysen, Kommentare und Leitartikel so schreibt, dass es nicht nur ein Gewinn, sondern auch ein Genuss ist, sie zu lesen. Sie befriedigt Hunger und sie weckt Appetit. Sie ist ein Blatt sowohl für den Universitätsprofessor als auch für die Standlfrau vom Viktualienmarkt. Sie ist in der Lage, auch komplizierte Themen so darzulegen, dass der Experte das respektiert und der Laie es versteht.“ So soll es sein; und so soll es bleiben.

Mein journalistisches Lieblingsmetier war und ist der Kommentar, der Leitartikel, die Kolumne – also der Diskussionsbeitrag. Dessen Kraft hängt gewiss auch von der Auflage des Blattes ab, in dem er erscheint, von der Reichweite des Mediums also. Aber das allein ist es nicht. Ein lahmer Kommentar ist und bleibt ein lahmer Kommentar, ob er nun im Sechs-Ämter-Boten oder in der Süddeutschen Zeitung publiziert wird. Ein Kommentar soll nicht kaltlassen; er soll anregen oder aufregen, er soll entweder überzeugen oder zum Widerspruch herausfordern.

Kreise ziehen

Ein Leitartikel oder ein Kommentar ist nicht dann demokratisch, wenn er danach trachtet, die Mehrheitsmeinung abzubilden; nichts wäre langweiliger – dann könnte man ja die Kommentare abwechselnd von Forsa und der Forschungsgruppe Wahlen schreiben lassen. Ein Leitartikel ist dann demokratisch, wenn er, sagen wir es ein wenig pathetisch, zum Gespräch verhilft. Ein guter Leitartikel ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft: Er verändert die Qualität des Wassers nicht, zieht aber Kreise.

Damals, in meinen Vorlesungen an der Uni Wien, das war im Jahr 2011, habe ich die Süddeutsche Zeitung so vorgestellt und beschrieben: „Sie bietet umfassende und verlässliche Information. Sie ist Meinungsführer im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Sie ist ein Blatt, das Informationen sorgfältig überprüft, einordnet und analysiert. Sie ist ein Ort demokratischer und aufgeklärter Diskussionskultur“. Dass das so ist und so bleibt, das wünsche ich der Süddeutschen Zeitung zum 75. Geburtstag.

Qualität kommt von Qual: Dieser Qualitätssatz steht in der Hamburger Journalistenschule, aber er gilt nicht nur für Journalistenschülerinnen und Journalistenschüler. Dieser Satz meint nicht, dass man die Leser und User mit oberflächlichem Journalismus quälen soll. Qualität komme von Qual: Dieser Satz verlangt von Journalistinnen und Journalisten in allen Medien, dass sie sich quälen, das Beste zu leisten; und er verlangt von den Verlegern und den Medienmanagern, dass sie die Journalisten in die Lage versetzen, das Beste leisten zu können. Dann hat der Journalismus eine gute, dann hat er vielleicht gar eine glänzende Zukunft.

Das wünsche ich uns allen

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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