Guten Tag,
die Bundespräsidenten sind wie Kometen: Sie ziehen ihre Bahn, glühen, verglühen – und sind vergessen. Der amtierende Präsident, Frank-Walter Steinmeier, er ist der 12. Bundespräsident der Republik, stemmt sich gegen das Vergessen. Er kandidiert ein zweites Mal, ohne dass er derzeit eine Mehrheit in der Bundesversammlung hinter sich oder in Aussicht hätte. Er geht ins Risiko. Aus Steinmeier, der bisher trotz seiner langen politischen Karriere als politisches Beta-Tier galt, wird nun ein politisches Alpha-Tier – das seine Chance sucht und sie mit offensiver Finesse präpariert.
Hoch auf dem gelben Wagen
Das Bild mit den Bundespräsidenten und den Kometen stammt vom 2008 verstorbenen SZ-Redakteur Claus Heinrich Meyer, der ein großer Kenner der Bonner Republik war. Der Kollege, Gott hab ihn selig, hat das am Beispiel von Heinrich Lübke und Karl Carstens erlebt. Und selbst von Walter Scheel, einem Mann von bewundernswerter Heiterkeit und Härte, ist ja in der kollektiven Erinnerung nur das Lied „Hoch auf dem gelben Wagen“ übriggeblieben, das er 1973, noch als Außenminister Willy Brandts, für die Aktion Sorgenkind gesungen hat. Scheels exzellente Reden – vergessen! Er war ein Präsident, der eine der schwierigsten Ansprachen halten musste, die je ein Bundespräsident hat halten müssen: Die Trauerrede auf den von der RAF ermordeten Hanns Martin Schleyer, nachdem sich die Bundesregierung geweigert hatte, ihn gegen RAF-Gefangene auszutauschen. Man liest diese Ansprache immer noch mit Bewegung.
Der Präsidenten-Präsident
Der Kometen-Vergleich stimmt – aber nicht für alle. Richard von Weizsäcker, der sechste Bundespräsident, gilt heute noch als der Idealtypus eines Präsidenten. Er gilt als ein Präsidenten-Präsident, als einer, an dem sich seine Nachfolger bis heute messen lassen müssen; Weizsäcker ist ein Fixstern. Er war, von Herkommen und Habitus, Attitüde und Artikulation, der Gegentyp zu Helmut Kohl. Kohl galt als biederer Pfälzer, Weizsäcker als Weltmann und Weltgeist. In der CDU war er vor Angela Merkel der einzige, der Kohl erfolgreich Paroli geboten hat. Weizsäcker verkörperte, so sahen es damals die meisten Deutschen, das, was Kohl versprochen hatte: die geistig-moralische Erneuerung.
Heiße Eisen schmieden
Da wurde ein ungewöhnlicher Mann idealisiert, da überdeckte die Verehrung, dass dieser Bundespräsident auch ein Politiker mit Biss und Machtinstinkt war, eingebettet in erlesene Eloquenz. Die war nicht trompetenhaft, sondern von ausgefeilter Differenz. Weizsäcker gelang mit ziselierten Sätzen, was andere allenfalls mit dem schweren Hammer können: heiße Eisen schmieden. So wurde er ein Präsident für Geist, Herz und Seele. Weizsäcker ist dann nicht einfach verglüht, er glühte weiter. Auch als ehemaliger Präsident blieb er ein großer Präsident: Seine Noblesse wurde noch silbriger, sein Charisma wirkte fort. Er blieb das, was er war: Ein Vorausdenker ohne Parteifesseln. Und er wurde, was er immer sein wollte: Ein großer Ratgeber, bei der Reform der Europäischen Union zum Beispiel.
Leidenschaft, die nicht leidenschaftlich ist
Silberhaarig wie Weizsäcker ist Frank-Walter Steinmeier auch und ein bekennender evangelischer Christ wie Weizsäcker ist Steinmeier ebenfalls. Und gute, ja hervorragende Reden hält er auch; er ist aber kein Redner, es gelingt ihm nicht, sie so bedeutend und geschichtsträchtig zu präsentieren wie es Weizsäcker konnte. Steinmeiers Reden entfalten ihre Kraft erst, wenn man sie nachliest. Dann erst spürt man eine Leidenschaft, die nicht leidenschaftlich ist: Steinmeier ist ein sehr geschichtsbewusster demokratischer Patriot, er ist einer, der die Wegbereiter der deutschen Demokratie aus dem Vergessenen holen will.
Er gräbt die Fundamente der Bundesrepublik aus, die tiefer reichen als bis zum Grundgesetz: Er erinnert an die bürgerliche Revolution von 1848/49 und daran, wie sie von den Fürsten zertreten wurde. Er feiert den 9. November 1918, der Tag, an dem die Novemberrevolution die deutsche Republik ausgerufen hat; er holt diese Revolution aus der Abstellkammer der Demokratiegeschichte. Für diese Rede vom 9. November 2018 im Bundestag haben ihm alle Abgeordneten – auch die der AfD! – stehend applaudiert. Trotzdem hinterlassen diese Reden keine größeren Spuren im öffentlichen Bewusstsein.
Napoleonische Chuzpe
Gustav Heinemann, der erste sozialdemokratische Bundespräsident, ist kein zweites Mal angetreten. Johannes Rau, der zweite sozialdemokratische Bundespräsident, auch nicht. Die Mehrheitsverhältnisse waren so, dass eine Wiederwahl unwahrscheinlich erschien. Steinmeier, der dritte sozialdemokratische Bundespräsident, tritt nun zur Wiederwahl an. Er tut es, und dies ist das Spektakuläre an dieser Kandidatur, ohne jede Garantie, dass er gewählt wird. Er geht das Risiko ein, bei der Bundesversammlung am 13. Februar 2022 als dann noch amtierender Präsident einem Gegenkandidaten oder einer Gegenkandidatin zu unterliegen.
Alle Präsidenten, die sich bisher einer zweiten Kandidatur gestellt haben, hatten eine Mehrheit in der Bundesversammlung sicher: Bei Theodor Heuss war das so, bei Heinrich Lübke, bei Richard von Weizsäcker, bei Horst Köhler. Bei Steinmeier ist das jetzt anders. Er geht an die Sache mit napoleonischer Chuzpe: Man begibt sich in den Kampf – und dann wird man sehen.
Frechheit siegt? So funktionierte es jedenfalls bei der ersten Wahl Steinmeiers zum Bundespräsidenten. Damals, 2016/2017, war es SPD-Chef Sigmar Gabriel, der die Union und die Grünen mit dem Kandidaten Steinmeier erfolgreich überrumpelte. Dessen Wahl war damals das Vorspiel zur Bundestagswahl ein halbes Jahr später. 2022 ist die Präsidentenwahl das Nachspiel zur Bundestagswahl, die fünf Monate vorher stattfindet. Und diesmal ist es Steinmeier selbst, der die anderen überrumpelt. Er verlässt sich nicht darauf, dass die SPD-Chefs Esken und Walter-Borjans die Dinge händeln. Er will ohnehin über solchen Händeln stehen. Und daher überrumpelt er mit der Ankündigung seiner Kandidatur die Grünen, die auf das höchste Staatsamt schielen, und er überrumpelt die Union, die es auch gern wieder hätte.
Porträts beschreiben Steinmeier oft als einen Mann ohne Eigenschaften, als einen schmallippig bürokratischen Typ. Wer einmal in die Reichweite des Lachens von Steinmeier geraten ist, wundert sich über so ein Urteil. Steinmeier kann in Fraktionsstärke lachen und er kann sich wunderbar über sich selbst lustig machen, auch darüber, was er nicht kann.
Vom Beta-Tier zum Alpha-Tier
Steinmeier könne fast alles, hat Gerhard Schröder einmal gesagt – nur Wahlkampf nicht; Steinmeier sei halt keine Rampensau. Das hat sich denn auch im Jahr 2009 erwiesen, als Steinmeier SPD-Kanzlerkandidat war. Nun freilich zeigt sich, im fünften Jahr seiner Präsidentschaft, dass Steinmeier doch kämpfen kann. Alles hat seine Zeit. Vielleicht ist er auf diese Weise noch da, wenn die SPD bei den Bundestagswahlen schier untergegangen ist.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in einen hoffentlich sommerlichen Juni; möge in diesem Monat das Wort Corona immer kleiner geschrieben werden.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung