Die EU-Flüchtlingspolitik will Familien demnächst internieren. Damit ist Europa auf polnischem PiS-Niveau angelangt.

Von Heribert Prantl

Der Kaiser von China verkündet an einem Festtag „zur Friedenssicherung“, wie er sagt, den Bau einer gigantischen Mauer. Die soll, so erklärt er, den Zweck erfüllen, die Zeit aufzuhalten und die Zukunft zu verhindern. So steht es bei Max Frisch in seinem Drama über „Die chinesische Mauer“. Der Kaiser von China hat heute in der Europäischen Union seine Kommissare, Minister und Bewunderer. Aber: Mit Mauern und Stacheldrahtzäunen sind noch nie Probleme gelöst worden.

Vor 24 Jahren, bei einer EU-Sonderkonferenz zum Asyl- und Einwanderungsrecht im finnischen Tampere, kamen die Regierungschefs der EU zur Erkenntnis, dass eine Politik des Einmauerns nicht funktioniert. Diese Konferenz im Jahr 1999 propagierte zwar das Modell der Festung Europa, aber eines mit Zugbrücken. Mit einer solchen Aktion Zugbrücke hätte eine neue Flüchtlings- und Einwanderungspolitik beginnen können: Man hätte dann legale Zugangswege für Einwanderer, man hätte sichere Korridore für Flüchtlinge schaffen, man hätte die Einwanderung nach einem Punktesystem regeln können.

Nichts davon geschah. Die Zugbrücke wurde nie heruntergelassen. Soeben, auf der EU-Konferenz in Luxemburg, wurde nun das Projekt Zugbrücke offiziell beendet. Es wurde ersetzt durch ein neues Programm: Es hat zum Inhalt, die Mauern der Festung noch viel höher zu bauen. Es hat zum Inhalt, Flüchtlinge, auch Flüchtlingsfamilien samt Kindern, in Haftlagern an den Außengrenzen zu internieren. Das verstößt gegen die Werte, zu denen Europa sich bisher bekannte: die Grundrechte-Charta, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Genfer Flüchtlingskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention.

Sie geht weiter, die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“

Und: Es ist das krasse Gegenprogramm zu der Vision, die Papst Franziskus für Geflüchtete hat. Vor genau zehn Jahren, bei seiner ersten Auslandsreise, die ihn im Juli 2013 auf die Insel Lampedusa vor der Südspitze Siziliens führte, hielt er seine berühmte Rede, in der er über die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ klagte und alle Länder zu „großzügiger Offenheit“ aufforderte. Seitdem entwickelt er ein Programm zur Fluchtursachenbekämpfung – und er fordert dazu auf, legale Einreisemöglichkeiten zu entwickeln. Korridore nennt er sie; man kann sie auch Zugbrücken nennen.

Die christliche Gemeinschaft Sant’Egidio, die eine hoch anerkannte Arbeit für Flüchtlinge und Obdachlose macht, hat zum EU-Asylkompromiss erklärt, worum es eigentlich gehen müsste: „Vor allem darum, humane Wege der Zuwanderung zu ermöglichen, humanitäre Korridore. Denn das Flüchtlingsproblem ist ja nicht gelöst, die Migrationsproblematik wird uns noch Jahrzehnte beschäftigen. Es sind nicht nur die Kriege, es ist der Klimawandel, es sind die schlechten politischen Verhältnisse, die die Menschen dazu bringen, sich auf den Weg zu machen.“ Bei seinem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos sprach Papst Franziskus von der Hoffnung, „dass die Welt diese Szenen tragischer und so verzweifelter Not beachtet und auf eine Weise reagiert, die unserer gemeinsamen Menschlichkeit würdig ist“. Der europäische Asylkompromiss gehört nicht zu solchen Reaktionen.

Selbst der humane Raum des Kirchenasyls steht nun auf dem Spiel

Die Kirchenasylgemeinden in Deutschland argwöhnen, dass der EU-Asylkompromiss das Aus für das Kirchenasyl für Flüchtlinge bedeutet. Stephan Theo Reichel, der Vorsitzende des Vereins „Matteo – Kirche und Asyl“ meint, das sei die Konsequenz aus der vereinbarten Verlängerung der Dublin-Regeln und einer Sonderklausel zu „selbstverschuldeten Abschiebehindernissen“. Es ist so: Der Staat hat bisher die besondere Würde von Kirchenmauern regelmäßig respektiert; er wollte Flüchtlinge, die dahinter Schutz gefunden hatten, nicht mit polizeilicher Gewalt herauszerren. In Zukunft, so die Befürchtung aufgrund der künftigen EU-Rechtslage, werden die Flüchtlinge im Kirchenasyl juristisch ausgehungert. Sie werden abgeschoben, sobald sie es verlassen – so lang das Kirchenasyl auch gedauert haben mag: Zeitablauf verhindert die Abschiebung nicht mehr.

In der Vergangenheit haben die Verwaltungs- und Migrationsbehörden ein Kirchenasyl immer wieder zum Anlass genommen, den Fall des jeweiligen Flüchtlings noch einmal zu überprüfen; der Staat hat dann nicht selten seine bisher negative Entscheidung korrigiert. Das Kirchenasyl war ein Regulativ des Rechtsstaats auf der Suche nach Gerechtigkeit. Und jetzt? „Die Not ist groß, und der Schritt zur Resignation ist nicht mehr weit“, sagt Theo Reichel.

Es wiederholt sich jetzt auf europäischer Ebene das, was sich vor dreißig Jahren auf nationaler Ebene abgespielt hat. Damals, in den Jahren 1990 ff. begann die deutsche Einheit damit, dass ein fraglos schwieriger Auftrag des Grundgesetzes, der Schutz der Flüchtlinge, abgeschüttelt wurde. Der Bericht der Arbeitsgruppe „Flüchtlingskonzeption“, den Wolfgang Schäuble 1990 als Bundesinnenminister vorgelegt hatte und in dem es auch um die Bekämpfung von Fluchtursachen ging, verschwand in der Schublade.

Das Asyl wird der europäischen Einheit geopfert

Die Deutschen hatten damals andere Sorgen als die Not der Welt: Die deutsche Einheit war zu bezahlen, der Wohlstand im Westen der Republik musste erhalten, der Wohlstand im Osten ausgebaut werden. Es gab zu viele Schwierigkeiten mit der eigenen Lage, als dass man sich noch um die Schwierigkeiten anderswo hätte kümmern können oder wollen – das war die Grundstimmung damals. Damals wurde ein Grund- und Menschenrecht der deutschen Einheit geopfert. Heute wird das Asyl der europäischen Einheit geopfert. Ob darauf Segen ruht?

Der Asylkompromiss ist aus der Not geboren, um den europäischen Laden einigermaßen zusammenzuhalten – aber nicht einmal dafür taugt er offenbar. Der polnische Europaminister hat nämlich bereits durchblicken lassen, was von seinem Land zu erwarten ist, nämlich gar nichts. Er sagte: „Wir werden nicht akzeptieren, dass uns absurde Ideen aufgezwungen werden.“ Polen & Co. wollen die vereinbarten Ausgleichszahlungen nicht leisten, wenn sie keine Flüchtlinge aufnehmen. Angesichts solcher Erklärungen ist es gefährlich, Europa, die europäische Politik und das europäische Recht auf PiS-Niveau zu drücken. Die polnische PiS-Partei wird nicht ewig regieren. Polen ist noch nicht verloren. Aber Europa verliert, wenn es sich von seinen Werten verabschiedet.


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