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acht Minuten und 46 Sekunden: Die New York Times hat eine Videodokumentation über die Tötung des George Floyd ins Netz gestellt, sie heißt „How George Floyd was killed in Police Custody“ – Wie George Floyd im Polizeigewahrsam getötet wurde. Es ist der Abend des 25. Mai 2020 in Minneapolis. Man sieht, wie George Floyd aus seinem Auto geholt wird, wie seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt werden und er zu Boden gezwungen wird. Was dann folgt, sind entsetzliche acht Minuten und 46 Sekunden, kaum auszuhalten. Man sieht, wie ein Polizeibeamter auf Floyds Nacken kniet, wie ein Kollege auf Floyds Rücken drückt und ein anderer auf dessen Beine. Man hört das Opfer flehen und bitten: Ich kann nicht atmen. Man hört ihn nach seiner Mutter rufen. Man hört ihn sagen, dass er stirbt. Es rührt die Beamten nicht. Man sieht entspannte, kalte Mörder in Uniform. Es sind weiße Polizisten. Ihr Opfer ist schwarz, Afroamerikaner.
13 Prozent der US-Bevölkerung sind schwarz, 24 Prozent der von der Polizei getöteten Menschen sind schwarz, 38 Prozent aller US-Gefängnisinsassen sind schwarz. Für Rassisten beschreiben diese Zahlen, dass „die Schwarzen“ betrügen, klauen, vergewaltigen und töten; die Zahlen bestätigen, angeblich, die Vorurteile. Sie beschreiben aber in Wirklichkeit und in aller Nüchternheit den strukturellen Rassismus.
Ikone des Rassismus
Die Bilder der Videodokumentation zeigen den Rassismus in all seiner Brutalität; der triumphal aufgerichtet auf dem Hals eines erstickenden Schwarzen kniende weiße Polizist ist geradezu eine Ikone des Rassismus. Und die Demonstrationen überall in den USA zeigen, wie sehr dieser Rassismus das Land aufwühlt.
Viele Demonstranten tragen Plakate oder T-Shirts mit der Aufschrift „I can’t breathe“. Es ist dies ein Satz, der seit dem Jahr 2014, seit dem Tod des asthmakranken Afroamerikaners Eric Garner, für Polizeigewalt steht. Garner war in New York City bei der Festnahme von Polizisten erwürgt worden. „I can’t breathe“ hatte er zuvor geklagt, ohne dass die Polizisten darauf reagierten.
Wie aus Hetze Gewalttaten werden
Minneapolis ist nicht so weit weg von Deutschland. New York City ist auch nicht so weit weg. Es herrschte hierzulande lange der Irrglaube, dass es in Deutschland nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Ende des Holocaust keinen Rassismus mehr gäbe. Als im Jahr 1997 das „Europäische Jahr gegen den Rassismus“ eröffnet wurde und nach dem Willen der EU auch in Deutschland begangen werden sollte, genierten sich die deutschen Regierungspolitiker für dieses Wort „Rassismus“ beinah mehr als für die Vorfälle, die es bezeichnete. Deutschland war und ist mitnichten rassismusfrei. Die Ausschreitungen im September 1991 in Hoyerswerda, dann in Rostock-Lichtenhagen, später die Mordanschläge in Mölln und Solingen, dann die Verbrechen des NSU zeigten das auf brutale Weise. Und in den Jahren 2019 und 2020 konnte man in Kassel, Hanau und Halle erleben, wie aus rassistischer Hetze furchtbare Gewalttaten werden.
Der vertriebene Pfarrer in Zorneding
Mir fiel bei den Bildern von den Demonstrationen in den USA der frühere Zornedinger Pfarrer Olivier Ndjimbi-Tshiende ein: deutscher Staatsbürger, gebürtiger Kongolose, Theologieprofessor. Mir fiel ein, was diesem katholischen Priester vor vier Jahren in der Münchner Umlandgemeinde Zorneding widerfahren ist, als er sich kritisch über einen flüchtlingsfeindlichen Artikel der örtlichen CSU-Vorsitzenden geäußert hatte. Erst verwarnte der stellvertretende Ortsvorsitzende „unseren Neger“. Dann kamen anonyme Briefe mit Beleidigungen und Morddrohungen. In seinem Briefkasten fand er ein weißes Pulver, von dem er nicht wusste, was es war. Dann erhielt er eine Postkarte, auf der zu lesen stand: „Wir schicken dich, du Arschloch, nach Auschwitz.“ Und noch eine Postkarte: „Hau ab, du stinkender Neger.“ Nach fünf Morddrohungen gab der Geistliche sein Amt als Gemeindepfarrer von Sankt Martin ab. Heute lehrt er an der katholischen Universität in Eichstätt. Einer der Rassisten, die ihn bedroht hatten, ein 74-jähriger Rentner, wurde zu zehn Monaten auf Bewährung und zur Zahlung von 600 Euro an den Verein „München ist bunt“ verurteilt, zahlbar in Monatsraten zu 20 Euro.
Menschen werden nicht als Rassisten geboren, sie werden dazu gemacht: Durch Vorurteile, die sich in die Gesellschaft eingefressen haben und die tiefe Wurzeln haben, in den Geistes- und Naturwissenschaften, in der Philosophie und in der Theologie, in der Biologie.
Die Mohren des Martin Luther
Der ehemalige Pfarrer in Zorneding kennt gewiss den theologischen Rassismus, der einst aus der biblischen Ur-Erzählung von Noah entwickelt wurde. Noah, den mit der Arche, kennt jeder. Er ist im Mythos der Urvater der nachsintflutlichen Völkerwelt und spricht Segen über seine Nachkommen aus, aber auch Fluch. Es ist der Noahsohn Ham, den dieser Fluch schwer trifft: Verflucht sei dein Sohn, er sei seinen Brüdern ein Sklave aller Sklaven!
Dieser Satz zählt leider nicht zu den biblischen Sätzen, die wie viele andere der Vergessenheit preisgegeben worden sind. Hams Nachkommen wurden in Luthers Lesart zu den „Mohren“. Der Fluch, „ein Sklave aller Sklaven“ zu werden, war eine treffliche Vorlage für rassistische Lesarten. Damit konnte man der Versklavung der Schwarzen höhere Weihen verleihen. So erklärte im 17. Jahrhundert der Theologieprofessor Johann Heinrich Heidegger, dass in dem Augenblick, als Noah den Fluch aussprach über Hams Sohn, dessen „Haare sich kräuselten und sein Gesicht augenblicklich schwarz wurde“.
Kant und „die schwarze Farbe“
Wer Rettung gegen solche krausen theologischen Gedanken bei der Philosophie sucht, wird enttäuscht. Auch die Aufklärung klärte nicht auf, sondern steuerte ihren Teil zur Verwissenschaftlichung des Rassismus bei. Hundert Jahre später schrieb Immanuel Kant, der meinte, es besser zu wissen als der Theologe: „Einige bilden sich ein, Ham sei der Vater der Mohren und von Gott mit der schwarzen Farbe bestraft, die nun seinen Nachkommen angeartet. Man kann aber keinen Grund anführen, warum die schwarze Farbe in einer vorzüglichern Weise das Zeichen des Fluches sein sollte als die weiße.“ So weit, so gut.
Kant erklärt dann aber: „Der Einwohner des gemäßigten Erdstriches, vornehmlich des mittleren Theiles desselben, ist schöner am Körper, arbeitsamer, scherzhafter, gemäßigter in seinen Leidenschaften, verständiger als irgendeine andere Gattung der Menschen in der Welt. Daher haben diese Völker zu allen Zeiten die anderen belehrt und durch die Waffen bezwungen.“ Soweit der Philosoph der europäischen Aufklärung über Vorrang und Vorrecht der Weißen. Er hat hier nicht selbst gedacht; er hat sich der damals herrschenden Meinung angeschlossen.
Ob in Philosophie, Theologie, Biologie oder Soziologie: Rassismus hat immer seine angeblich ernsthaften Begründungen von angeblich aufgeklärten Menschen gefunden. Hass braucht nämlich das moralische oder wissenschaftliche Argument, dann ist er effektiver.
„Lasst uns Menschen machen!“ Das ist zur Devise des Rassismus geworden. Der Rassist erschafft die Menschen nach seinem Bild. Er versucht Menschen zu dem zu machen, was er in ihnen sieht: dumme, kriminelle, animalische Kreaturen. Dieses war das Konzept des Apartheid-Staates Südafrika, das den Rassismus zur Staatsräson machte und ihn in Regierungspolitik umsetzte.
„Rasse“ ist das Ergebnis von Rassismus
Es ist der Rassismus, der überhaupt erst die Vorstellung von Rassen erschaffen hat. Es gibt keine Menschenrassen. Der Rassebegriff ist ein gedankliches Konstrukt, das keine biologische Grundlage hat und jeglicher Realität entbehrt; er sollte gar nicht mehr benutzt werden, um Menschengruppen zu bezeichnen. Die 2019 veröffentlichte „Jenaer Erklärung“ des Instituts für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität bringt es auf diese Formel: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Wenn man das so schreibt, fragt man sich, warum man das überhaupt noch schreiben muss.
Der Bleistift-Test
Trevor Noah, geboren in Johannesburg, heute der Jan Böhmermann der USA, beschreibt in seiner Biografie (die ich Ihnen schon einmal zu lesen empfohlen habe) welche Blüten der rassistische Wahn in Südafrika noch vor wenigen Jahrzehnten getrieben hat: „Jedes Jahr (wurden) einige Farbige zu Weißen befördert… Wer einen Antrag stellte, als weiß klassifiziert zu werden, dem steckte man einen Bleistift in die Haare. Wenn der Bleistift herausfiel, war man weiß. Wenn er drinblieb, war man farbig.“
Das ist kein Witz! Das ist der Wahnwitz des Rassismus.
Ich wünsche uns eine nachdenkliche Woche
Ihr
Heribert Prantl,
Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung