Guten Tag,
es gibt Tage, an denen spürt man das Schwanken der Welt; es gibt Tage, an denen einen das Grauen packt. Der terroristische Massenmord vom 11. September 2001 war so ein Tag. Der 7. Januar 2015 war auch so einer, der Tag, an dem die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo überfallen wurde. Zwölf Menschen, unter ihnen Karikaturisten der Zeitschrift und ihr Herausgeber, wurden von islamistischen Terroristen erschossen.
Und es fasste einen das Entsetzen, als soeben, am 16. Oktober, also am Freitag vor einer Woche, der Lehrer Samuel Paty von einem islamistisch verhetzten jungen Mann auf dem Heimweg vom Unterricht geköpft wurde. Bei solch unfassbar grausigen Nachrichten suchen die Fassungslosen Halt in einem gemeinsamen Bekenntnis: „Je suis Charlie“ hieß das damals, „Je suis Samuel“ heißt das heute. Man sucht den Halt und den Zusammenhalt in solchen Formeln der Anteilnahme, die nicht nur Formeln sind, sondern Sätze der Selbstvergewisserung.
Kleine, nicht kleinlaute Sätze
Je sui Samuel. Das ist ein kleiner, aber kein kleinlauter Satz. Manchmal werden solche Sätze („Je suis Samuel“; „Je suis Charlie“) freilich angeberisch, manchmal auch kokett gebraucht. Eigentlich sind es Sätze, in denen sich Trauer und Bekenntnis verbinden: die Trauer über die Opfer eines brutalen Verbrechens und das Bekenntnis zu den Werten, zu den Rechten und der Kultur einer freiheitlichen Gesellschaft.
Der Prager Theologe Tomas Halik hat von dieser Kultur aber auch Achtung vor der Religion der Minderheit verlangt. Er hat daher von jener Kultur geschrieben, die „auch Humor und Ironie sowie Polemik gegen den Fanatismus und Fundamentalismus kennt und die Freiheit des Wortes verteidigt, jedoch auch empathisch sein kann gegenüber den anderen und deren Werte achtet“, einer Kultur, die „weiß, dass diese Achtung kein weniger wichtiger Wert ist als die Pressefreiheit“. Halik tat sich durchaus schwer damit, „Je suis Charlie“ zu sagen, weil er bei den Satirikern von Charlie Hebdo, „trotz aller Sympathie gegenüber den Opfern und ihren Nächsten“ diese Achtung vermisste. Diese Art Satire müsse in einer freien Gesellschaft möglich sein, solle jedoch, meinte Halik, lieber nicht zur Gallionsfigur der freien Kultur stilisiert werden.
Untaten machen aus schlechten Karikaturen keine guten. Aber den Schutz der Meinungsfreiheit verdienen nicht nur gute, nicht nur gelungene Karikaturen. Die Meinung darüber, was gut, was gelungen und was treffend ist, gehen ohnehin auseinander. Das hängt oft von der Ansicht dessen ab, der die Karikatur bewertet, und von seinem Stand in der Gesellschaft. Gehört er zu denen, die geachtet sind, oder zu denen, die verachtet werden? Gehört er zu denen, die soziale Sicherheit und Selbstvertrauen haben, oder zu denen, die dies entbehren? Das versuchte der Lehrer Samuel Paty mit seiner Klasse zu erörtern.
Respekt und Sensibilität
Paty war selbst ein Vorbild für Respekt und Sensibilität – wie sie im Verhältnis zwischen dem französischen Präsidenten Macron und dem türkischen Präsidenten Erdoğan ganz und gar nicht herrschen. Paty versuchte, das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, in der Religionsfreiheit und Meinungs- und Pressefreiheit gleichermaßen ihren Rang haben; zu einer Gesellschaft, in der keines der Freiheitsrechte dem anderen automatisch vorgeht, weil all diese Rechte ihre Wurzeln in der Menschenwürde haben; es geht um das Bekenntnis zu einer Gesellschaft, in der es Konflikte zwischen den Menschen und ihren Grundrechten geben darf – die aber von Gerichten geklärt werden, nicht von Messern und Schusswaffen.
Aber das alles wusste sein Mörder nicht in seiner Verblendung. Er war nicht sein Schüler. Vielleicht wäre er nicht zum Mörder geworden, wenn er Lehrer wie Samuel Paty gehabt hätte. Er wusste nicht einmal, wie der Mann aussah, dem sein Hass galt. Er hatte sein vermeintliches Wissen aus der Hetze in sozialen Medien. Er reiste über achtzig Kilometer an, um das Todesurteil, das er über Samuel Paty gefällt hatte, zu exekutieren.
Das Sichere ist nicht sicher. Dieser Satz ist nicht tröstlich, aber er ist wahr und er galt auch schon in der Zeit, als es den islamistischen Terror noch nicht gab. Ein Weihnachtsmarkt ist nicht sicher. Die Promenade am Mittelmeer ist es nicht. Die Innenstadt in Dresden auch nicht; Anfang Oktober wurden dort zwei Touristen Opfer einer Messerattacke; der Täter: mutmaßlich ein islamistischer Verbrecher.
Die Schule ist auch kein sicherer Ort; das ist jetzt keine Anspielung auf Corona. Das ist das Wissen darum, dass es auch dort schon furchtbare Anschläge gegeben hat. Um das festzustellen, muss man nicht in die USA schauen oder nach Frankreich, zur Schule des Geschichtslehrers Samuel Paty.
Entgrenzung des Hasses
Je suis: Dieser Satz ist nicht nur eine Betroffenheitserklärung; dann wäre er zu billig. Es reicht nicht, mit einem Plakat bei einer Demonstration mitzulaufen, obwohl auch das nicht nichts ist. Der Satz ruft auch einen Anspruch auf, nämlich genauso beharrlich wie die Zeichner und der Lehrer für Demokratie und Aufklärung zu arbeiten. Welchen Rückhalt brauchen mutige Lehrerinnen und Lehrer, Redaktionen und einzelne Journalisten, um sich keine Verbotsschere in den Kopf zu setzen? Sie brauchen ihn nicht nur in Frankreich. Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes hat vergangene Woche darauf hingewiesen, dass seine Kollegen auch hierzulande Druck von Eltern und Schülern bekommen, Inhalte wie z.B. den Nahostkonflikt nicht zu thematisieren. Er erwähnte auch die so genannten Meldeportale, in denen die AfD Denunziationen von Lehrern sammelt, die angeblich gegen ihre Neutralitätspflicht verstoßen.
Ein Anschlag auf die Grundlagen des Zusammenlebens
Die Meinungsfreiheit gehört zu den Freiheiten, die man bis vor Kurzem, in Westeuropa zumindest, für selbstverständlich gehalten hat. Aber das vermeintlich Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich. Der geköpfte Lehrer hat das, sehr behutsam, zu lehren versucht. Seine Vorsicht beim Lehren hat ihm nicht geholfen; es hat ihm nichts geholfen, dass er den muslimischen Schülern die Möglichkeit gab, den Unterricht zu verlassen, wenn sie sich die Mohammed-Karikaturen nicht antun wollen. Eine 13-jährige Schülerin, die selbst gar nicht im Unterricht war, hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, er habe Nacktbilder von Mohammed gezeigt. Damit ging es los, und davor, vor der Entstehung und Aufblähung von Gerüchten ist man an keinem Ort der Welt sicher. Die Ermordung des Lehrers war und ist ein Anschlag auf die Grundlagen des Zusammenlebens der Menschen.
Welche Ursachen haben die Hassexzesse?
Was also tun? Vielleicht sollte die Antwort auf diese Frage mit dem beginnen, was zu unterlassen ist – nämlich die Islamphobie anzufeuern; man muss die Ausgrenzungsreflexe im Zaum halten. Sie sind Dünger für den Boden, auf dem der Hass junger Muslime wächst. Gerade weil die Tat so widerlich ist, ist es nötig, nüchtern zu fragen, welche Ursachen solche Hassexzesse haben.
Die Alltäglichkeit der Ursachen steht im krassen Missverhältnis zu der Monstrosität der Verbrechen. Sie haben bekannte Namen, um mit A anzufangen: Arbeitslosigkeit, Abwertung, Armut. All dies ist erlebte Gewalt. Je länger diese Gewalt der Lebensverhältnisse währt und je auswegloser sie wird, desto mehr Menschen wechseln auf die Hassspur. Wer das Gefühl hat, dass seine Lebensbedürfnisse nach Arbeit, Anerkennung und Auskommen nicht respektiert werden, wird nur schwer die Meinungsfreiheit respektieren.
Was tun? Ein Teil der Lösung heißt: Sozialstaat, soziale Arbeit, sozialen Zusammenhalt stärken – so einfach, so schwer. Das heißt auch: weg von der Kurzatmigkeit der befristeten Projekte, befristeten Finanzierungen, befristeten Stellen in der sozialen Arbeit. Man braucht Präventionsnetze, bestehend aus Lehrern, Eltern, Sozialarbeitern, Moscheegemeinden; man braucht einen aufgeklärten Islamunterricht an Schulen. Man braucht den Islam als Partner, um gegen islamistische Verirrungen einzuschreiten. Die De-Radikalisierung der Islamisten, die zum Teil bemerkenswert wenig Ahnung vom Islam haben, schafft man nur zusammen mit den Muslimen in Deutschland. Man muss muslimische Autoritäten für die Auseinandersetzung mit Dschihadisten gewinnen.
Welche Rolle spielt der Islam?
Es wäre also fatal, wenn der Islam von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland und Europa im Ganzen als gefährliche Religion erfasst und homogenisiert würde; Tendenzen dazu gibt es. Die würden verstärkt, wenn der törichte Streit, ob Deutschland Einwanderungsland ist, vom Streit darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, fortgeführt würde. Die Mehrheitsgesellschaft wird dann Opfer ihrer eigenen Obsession. In Deutschland leben gut vier Millionen Muslime. Der Islam ist nicht das Problem. Er gehört zum Alltag. Er ist Teil der Lösung.
Missbrauch des Andenkens
Je suis: Neben diesem kleinen Satz nehmen sich die Rechthabereien von politischen Agitatoren aus wie eine Störung der Totenruhe, wie ein Missbrauch des Andenkens der Ermordeten. Gar nicht erst reden muss man von den Kloaken des Internets, in denen jedes Attentat ein neuer Anlass ist, den Koran zu benutzen wie Klopapier.
Politikerinnen und Politiker von ganz Rechtsaußen missbrauchen die Attentate, um ihre Warnungen vor einer „Islamisierung des Abendlandes“ noch lauter zu rufen. Es war frech, wie Leute von Pegida, die sonst gegen die „Lügenpresse“ hetzten, den Anschlag auf Charlie Hebdo, ein Organ dieser vermeintlichen Kategorie nutzten, um sich in ihrer Hetze bestätigt zu finden. Sie nutzen das Attentat auf ein Organ der Aufklärung, um die Werte der Aufklärung zu verachten. Sie antworteten auf den Hass der gewalttätigen islamistischen Fundamentalisten mit Hass gegen die Muslime.
Hass macht blind
Der Hass ist eine furchtbare Kraft. Der Hass macht blind. Der Hasser sieht den Menschen nicht mehr, er sieht die Menschen nicht mehr. Er sieht nicht mehr, dass die Menschen, die er jetzt totfährt, gerade Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder einkaufen. Der Hasser sieht nicht, dass die Menschen, die er mordet, Menschen mit Sorgen sind wie er. Der Terror hat verschiedenste Formen. Sein Kern und seine Triebfeder ist der Hass.
Der Hass macht aus anderen Menschen Objekte, die der Befriedigung des eigenen Hasses dienen müssen. Der Hass entmenschlicht. Er ist ein niedriger Beweggrund, der sich mit Geltungssucht selbst erhöht. Hassen heißt, unablässig morden. Solcher Hass ist nicht nur hässlich, er ist entsetzlich und unendlich traurig.
Das Gefährliche am Hass ist, dass er das Morden für eine tapfere Tat hält. Und das besonders Gefährliche am Hass ist, dass er ansteckend ist. Hass hat Verführungskraft. Wer vom Hass getroffen wird, kann von ihm infiziert werden. Die vom Hass Getroffenen hassen dann zurück: Sie hassen den Täter, sie hassen auch die Gruppe von Menschen, zu denen man den Täter rechnet. So entsteht die monströse Dynamik des Hasses. Wenn diese Dynamik funktioniert, ist das ein Erfolg der Hasser, der Mörder, der Terroristen.
Die Antwort auf den Hass
Der Journalist Antoine Leiris, dessen Frau beim Terroranschlag von Paris getötet wurde, richtete einen bewegenden offenen Brief an die Mörder: „Nein, meinen Hass bekommt ihr nicht!“ Er beschrieb seinen unsäglichen Schmerz: „Natürlich bin ich vor Kummer fast am Ende, diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu.“ Aber, so schrieb er auch: „Ich werde euch jetzt nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Sicher, darauf habt ihr es angelegt – doch auf diesen Hass mit Wut zu antworten, das hieße, sich derselben Ignoranz zu ergeben, die aus euch das gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit Argwohn betrachte und meine Freiheit für meine Sicherheit opfere. Vergesst es. Ich bin und bleibe der, der ich bin.“
Das war, das ist ein berührendes, ergreifendes und mutiges Bekenntnis. Das ist eine Antwort auf den Hass.
Und das ist ein Wort für die stille Jahreszeit, die jetzt anbricht. Ich wünsche uns trotz aller Corona-Beschwernisse Zuversicht und Hoffnung.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung