Die Weimarer Republik war vor hundert Jahren eine Demokratie mit zu wenigen Demokraten. Die Europawahlen werden zeigen, ob der EU Ähnliches droht.

Das Wort „Weimar“ hörte ich zum ersten Mal, als ich acht Jahre alt war. Ich war Ministrant geworden, Messdiener, wie man anderswo sagt – und von da an wusste ich, wie es hinter dem Hochaltar aussieht. Es ist dies die Abseite des Heiligen; da steht nicht nur zeremonielles Gerät, sondern auch allerlei Gerümpel. Zu den geheimnisvollen Abseiten gehörte auch der Dachboden des riesigen Barock-Pfarrhofes in dem oberpfälzischen Städtchen, in dem ich groß wurde. In den mächtigen Schränken dort lagerten alte Messgewänder, Rauchmäntel und allerlei priesterliche Trikotagen. Einer der Schränke aber war ein Tresor – dort lagerte Geld, unendlich viel Geld, wie mir schien.

Es waren ganze Kisten voll mit Münzen, ganze Schachteln mit Banknoten. Und als ich den Ältesten und Gescheitesten von uns, seiner körperlichen Größe wegen „Schlauch“ genannt, fragte, was es damit denn auf sich habe, sagte der, das sei „kaputtes Geld von früher“, das sei nichts mehr wert. Ich hörte das Wort „Inflation“ und das Wort „Weimar“ – und dass es vor Jahrzehnten eine Zeit gegeben habe, in der eine Semmel eine Million Mark gekostet habe. Die Großmutter, von mir dazu ungläubig befragt, berichtete dann, dass es sich um die „teuere Zeit“ gehandelt habe … Sie meinte die Weltwirtschaftskrise, die zu den vielen Krisen gehörte, die die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, zu bestehen hatte.

Vor hundert Jahren begann das Abenteuer Demokratie in Deutschland; am 6. Februar 1919 trat in Weimar die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung zusammen. Am kommenden Mittwoch, wird das groß gefeiert – Festakt, Festwoche, der Bundespräsident hält zu Weimar die Festrede. Frank-Walter Steinmeier wird, hoffentlich, die Weimarer Verfassung rehabilitieren, die keinen sehr guten Ruf hat, aber eine gute Verfassung war und einen vorbildlichen Katalog der Grundreche und Grundpflichten hatte. Ewald Wiederin, Staatsrechtslehrer in Wien, stellt dieser Weimarer Verfassung heute ein prächtiges Zeugnis aus: Sie sei „eines der originellsten Stücke, die je eine Verfassungswerkstatt verlassen haben“. In zahlreichen Verfassungen auf der ganzen Welt lebt sie fort.

Der Bundespräsident wird bei den Feiern gewiss davon erzählen, wie ungeheuer schwer es diese Weimarer Republik hatte, wie unglaublich viel sie in so kurzer Zeit aushalten musste: Von 1919 bis 1933 dauerte die erste deutsche Demokratie, ihre Zeit war kürzer als die der Kanzlerschaft von Helmut Kohl. Die erste Republik wurde traktiert von putschenden Militärs, von einer irrsinnigen Inflation und von blutigen Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsradikalen. Sie litt daran, dass sie eine Demokratie war mit viel zu wenigen Demokraten (Neue Bücher zur Revolution von 1918/19 sowie zur Nachkriegsordnung und zur Geschichte der Weimarer Republik. Des weiteren die Literaturbeilage der SZ vom 9.10.2018, Seite V2/21 „Steh auf, Arthur, es ist Revolution„).

Es wird aber nicht reichen, zum hundertsten Jubiläum das Fehlen der Demokraten in der ersten deutschen Demokratie zu betrauern. Denn der Europäischen Union von heute könnte ein ähnliches Schicksal dräuen: Wird sie zum Europa ohne Europäer? Wird sie zum Europa mit jedenfalls viel zu wenigen Europäerinnen und Europäern? Wird sie zum Europa der Europagegner? Das sind die Fragen, die Ende Mai beantwortet werden, bei der Wahl zum neunten Europäischen Parlament. Wenn die Wahl schief geht, wenn also die Anti-Europäer obsiegen, dann wird aus Brüssel womöglich das neue Weimar.

Der Genius loci, auf der Schlaufe

Warum war es eigentlich Weimar, warum wurde die erste deutsche Republik vor hundert Jahren in Weimar gegründet? Weimar war weit weg von den revolutionären Unruhen der großen Städte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die verfassunggebende Versammlung wollte Gewähr für eine ungestörte Arbeit. Und in dem Städtchen Weimar gab es auch das, was man den „Geist von Weimar“ nannte – die humanistischen Traditionen. Friedrich Ebert legte deshalb zum Beginn der Beratungen am Goethe-Schiller-Denkmal einen Kranz nieder: „Genio loci – der Reichspräsident“, stand auf der Schlaufe. Die Weimarer Zeitung freilich wollte sich auf den humanistischen Geist nicht verlassen und forderte auch den preußischen: „Wir möchten den ‚Geist von Potsdam‘ als die männliche Seite unseres Charakters und den ‚Geist von Weimar‘ als die weibliche Seite bezeichnen. Wo aber die eine Seite allein herrscht, die andere verkümmert ist, da gibt es keinen guten Klang.“ Die Missklänge hatten dann damit zu tun, dass es zu viel von dem gab, was die Weimarer Zeitung den Geist von Potsdam nannte.

Demokratie mit zu wenigen Demokraten

„Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ So lautet die Präambel der Verfassung, die dann am 11. August 1919 verabschiedet wurde: Sie verabschiedete den deutschen Kaiser, die Könige und die Herzöge, hielt aber am „Reich“ fest: „Das deutsche Reich ist eine Republik“, hieß es in Artikel 1, „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ In diesem Artikel steckte freilich mehr als ein Monarchieverbot: „Republik bedeutet auch Bejahung und Aufbau!“ So schrieben seinerzeit die Rechtsgelehrten Richard Thoma und Gerhard Anschütz in ihrem Handbuch des Staatsrechts.

In diesem Satz steckte schon die Vision einer freien und solidarischen Bürgergesellschaft. Aber die Weimarer Republik scheiterte dann auch daran, dass es zu wenige solcher Bürger gab. Die Weimarer Verfassung beschränkte das Volk nicht auf die Wahl des Parlaments; das Volk hatte auch das Recht zu Volksbegehren und Volksentscheid; und es konnte außer dem Reichstag auch den Reichspräsidenten unmittelbar wählen. Der Reichspräsident (der erste war Friedrich Ebert, der zweite Paul von Hindenburg, der dritte Adolf Hitler) setzte sozusagen die aus der Monarchie gewohnte starke Staatsspitze mit neuen Mitteln fort.

Die Gewaltenteilung, so sieht es der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, „kam dadurch nicht in ihrer puren Form zum Tragen“. Der Reichspräsident konnte das Parlament auflösen, und er hatte die unselige Notverordnungskompetenz. Der Weg zum „Volksstaat“ sollte eigentlich geebnet werden durch die verfassungsrechtliche Festschreibung der „Grundrechte und Grundpflichten“ – als „Programm künftiger Rechtsentwicklung“. Die Rechtslehre entwertete diese Grundrechte, deutete sie bloß formal: Sie galten nicht gegenüber dem Gesetzgeber, liefen damit leer. Das Grundgesetz hat daraus die Konsequenz gezogen, dass es die Gesetzgebung an die Verfassung band.

Den gesellschaftlichen Verhältnissen vorausgeeilt

Heute tut man oft so, als sei die Weimarer Republik auch an ihrer Verfassung gescheitert – als sei diese eine schlechte Verfassung gewesen. Das stimmt nicht. Sie hatte nur keine Chance, sich unter Normalbedingungen zu bewähren, weil die Geschichte der Weimarer Republik die Geschichte von Not- und Ausnahmesituationen war. Diese Verfassung war weiter als die Menschen. Sie war „den gesellschaftlichen Verhältnissen vorangeeilt“, wie Dieter Grimm dies formuliert hat. Das Grundgesetz hat versucht, die Schwächen dieser Verfassung zu vermeiden. Eine „Weimarer Probe“ hat es zum Glück nicht bestehen müssen. Es kann gut sein, dass nun Europa und die europäische Verfassungsordnung, gewürgt von den Nationalisten und den populistischen Extremisten, eine solche Probe bestehen müssen.

 


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