Zum Auftakt des Newsletters diesmal aus gegebenem Anlass zunächst ein Österreich-Gedicht. Einst mussten es die österreichischen Schulkinder auswendig lernen. Es ist ein schwelgendes Loblied, stammt von Franz Grillparzer, steht im dritten Akt seines Trauerspiels „König Ottokars Glück und Ende“ und spielt zwar in uralten Zeiten, nämlich im 13. Jahrhundert, ist aber trotzdem da und dort sehr aktuell. Dort, im dritten Akt, steht der Lobpreis auf Österreich, der mit dem Satz beginnt „Es ist ein gutes Land“. Man liest, spürt einen ironischen Beigeschmack, und spätestens bei den Zeilen am Ende beginnt man zu schmunzeln. Da heißt es: „O Vaterland! Inmitten dem Kind Italien und dem Manne Deutschland liegst du, der wangenrote Jüngling da; erhalte Gott dir deinen Jugendsinn und mache gut, was andere verdarben!“

Der wangenrote Jüngling und seine Selbstvergiftung

Es bleibt nicht aus, dass man heute beim daliegenden wangenroten Jüngling an den jungen Kanzler Sebastian Kurz denkt. Hier ist es freilich so, dass nicht einfach Andere seine Regierung und das Land Österreich verdorben haben. Er hat es selbst getan, indem er eine Koalition mit den extremistischen Populisten von der FPÖ eingegangen ist – in der Hoffnung, deren Unverschämtheiten schon irgendwie bändigen zu können. Kurz hat sich getäuscht, er hat sich und die ÖVP mit dieser Koalition selbst vergiftet. Seine bevorstehende Abwahl beim Misstrauensvotum am Montag könnte die Folge sein: ein Fluch der bösen Tat. Über die Auswirkungen auf Europa wird man viel diskutieren in den nächsten Tagen. (Alles Wissenswerte erfahren sie in unserem wöchentlichen Österreich-Newsletter, für den Sie sich hier anmelden können.)

Vor dreißig Jahren wurde der Bau der WAA Wackersdorf eingestellt

Alle reden von dieser Europawahl. Hier soll aber zunächst nicht von Brüssel, sondern von Wackersdorf die Rede sein: Am kommenden Donnerstag vor dreißig Jahren, am 30. Mai 1989, wurde der Bau der Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Kernbrennstäbe im oberpfälzischen Wackersdorf eingestellt – vier Jahre nach Baubeginn und nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung. Sieben Monate vor diesem Baustopp war Franz-Josef Strauß gestorben, der das Projekt mit allen Mitteln vorangetrieben hatte. Hätte Strauß noch gelebt, der Ausstieg aus dem Prestigeobjekt wäre nicht, jedenfalls nicht so rasch, vonstattengegangen. Die WAA-Betreiberfirma hatte Ende 1988 an der Verwirklichung des Atomprojektes zu zweifeln begonnen. Die Anlage war immer teurer, die Proteste waren immer lauter und die Genehmigungsverfahren waren immer langwieriger geworden. Und die Franzosen hatten ein finanziell attraktives Angebot gemacht – die abgebrannten Kernbrennstäbe aus Deutschland nach La Hague in Frankreich zu transportieren und dort zu entsorgen beziehungsweise aufzubereiten. Die Betreiber entschieden sich daher für eine Kooperation mit Frankreich und für ein Ende des gigantischen atomaren Projekts in der Oberpfalz. (Über die WAA Wackersdorf hatte ich auch schon in meinem Newsletter vom 30. September 2018 geschrieben.)

Die Grünen, die Anti-Atom-Aktivisten und die kleinen Leute

Rückblickend, nach dreißig Jahren, erscheint einem der Baustopp von 1989 als Einstieg in den Ausstieg aus der Atomwirtschaft in Deutschland. Wackersdorf hat den Anti-Atomprotest beflügelt, den Grünen Auftrieb gegeben, zur Bewusstseinsbildung beigetragen. Die Anti-Atom-Koalition von Wackersdorf war ein Protest der breiten gesellschaftlichen Mitte, in der auch Pfarrer und Funktionsträger von SPD und CSU vertreten waren. Diese Wackersdorf-Koalition verbündete sich mit der Anti-Atomkraftbewegung aus der ganzen Republik. Es kam zusammen, was bisher kaum zusammengekommen war.

Die Erwartung von Strauß, dass man angesichts der vermeintlich ebenso duldsamen wie industriegewohnten Bevölkerung in der Oberpfalz eine „rasche und ungestörte Realisierung des Projekts“ garantieren könne – sie erfüllte sich nicht. Hans Schuierer, der damalige Landrat von Schwandorf, heute 88 Jahre alt, war die Speerspitze des Widerstands der kleinen Leute. Er unterstützte die Bürgerinitiativen, trat als Gegner bei Protestveranstaltungen auf, stellte sich als Chef der Genehmigungsbehörde quer, legte sich mit der atombegeisterten Staatsregierung an, die gegen die Demonstranten von Hubschraubern aus CS-Reizgas einsetzen ließ. Er demonstrierte gegen das Projekt und unterstützte die Demonstranten beim Bau eines Hüttendorfes. Das kam für die Regierungspartei CSU einem Landesverrat gleich.

Der Sieg der Aufwiegler und der Bauersfrauen

Natürlich gab es auch Straftaten in Wackersdorf. Aber es gab noch sehr viel mehr Zivilcourage, gegen die strafrechtlich ermittelt wurde – weil sich die CSU-Regierung anders gegen die Solidarisierung der Einheimischen mit den auswärtigen Kernkraftgegnern nicht zu helfen wusste. Aus einem Protest von WAA-Gegnern wurde so schnell ein krimineller Landfriedensbruch. Und wenn ein Demonstrant von der Polizei weggetragen werden musste, wurde er wegen „Widerstand“ angeklagt, weil er sich dabei „schwer gemacht“ hatte. Die Staatsanwaltschaften schauten auf alles, was in Wackersdorf vor sich ging, wie durch ein gewaltiges Vergrößerungsglas: Da wurden aus Bauersfrauen Aufständische, aus Gärtnermeistern und Ministranten Aufwiegler. Aber die angeblichen Aufwiegler und die Bauersfrauen haben gesiegt.

Was kann man lernen von damals?

Das alles ist jetzt schon lang her. In der Oberpfalz, meiner Heimat, ist das alles aber fast noch Gegenwart. Auf dem ehemaligen WAA-Gelände entstand ein ganz und gar atomfreies Gewerbegebiet, der Innovationspark Wackersdorf. Und es ist ein Mythos entstanden: Wie die kleinen Leute an den Flüssen Naab und Regen der großen Politik Feuer unterm Hintern gemacht haben. Was kann man lernen von damals? Dass sich Engagement, dass sich Leidenschaft, dass sich der Einsatz lohnt – auch wenn es erst einmal fast aussichtslos erscheint. Man kann von Wackersdorf, vom abgeblasenen Atomprojekt, lernen, dass die Zukunft nicht geformt ist, sondern geformt wird. Die Frage ist nicht, welche Zukunft man hat oder erduldet. Die Frage ist, welche Zukunft man haben will und wie man darauf hinlebt und hinarbeitet.

Wenn populistische Extremisten auftrumpfen

Diese Überlegung führt mich von der Oberpfalz im Jahr 1989 ins Europa von 2019 – und wieder zurück. Sie führt mich in ein Europa, in dem die populistischen Extremisten auftrumpfen. Die Europäische Union, das bedeutendste Projekt der neuzeitlichen europäischen Geschichte, steht auf dem Spiel. Ich erinnere mich daran, wie dieses Europa für mich vor Jahrzehnten angefangen hat. Es ist auch dies eine kleine oberpfälzische Geschichte – und ich will sie Ihnen erzählen. Es war so: Im Januar 1963 hatten der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle den Elysee-Vertrag, also den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, geschlossen. Ich war noch nicht einmal zehn Jahre alt damals; aber ich erlebte, wie begeistert mein Vater, der in der Oberpfalz Kolping-Vorsitzender war, von den Kolping-Versammlungen zurückkam. Junge Französisch-Lehrer vom kleinen örtlichen Gymnasium berichteten bei Kolping von diesem Freundschaftsvertrag und was er für uns alle bedeute.

Blumenteppich und Erdbeerkuchen

Die Vorstandschaft des Kolpingvereins traf sich dann auch bei uns zu Hause, und sie begann, zusammen mit den jungen Französisch-Lehrern, ein Freundschafts-Projekt auszuhecken, einen großen Besuch in Frankreich. Es wurde eine mehrtägige Begegnung in Belfort, der alten Stadt und Festung im Ober-Elsass, die einst, im deutsch-französischen Krieg von 1870/71, so lang Widerstand gegen die deutschen Truppen geleistet hatte. Zwei Busse mit engagierten Kolping-Leuten fuhren also nach Frankreich; ich durfte, weil zu jung, noch nicht mit. Aber im Jahr darauf kam der Gegenbesuch aus Frankreich – eine große Delegation aus Belfort mit dem Präfekten an der Spitze. Und es waren Freundschafts-Festtage, es war ein wunderbares, freundschaftliches Spektakel, es war wie Fronleichnam, mit Blumenteppich, Blaskapelle, Spielmannszug, mit Reden auf dem Marktplatz.

Vom Sinn von Städtepartnerschaften

Der Präfekt wohnte mit seiner Frau bei uns zu Hause, Mutter und Vater hatten für den Besuch ihr Schlafzimmer geräumt, und wir redeten mit Händen und Füßen. Die Eltern konnten außer „Bonjour“ kaum ein Wort Französisch, wir Kinder waren auch nicht sehr sprachmächtig, bei den Mahlzeiten und beim Erdbeerkuchen-Essen war ein Französisch-Lehrer da, um bei der Konversation ein wenig nachzuhelfen. Und nach zwei, drei Tagen konnten wir französische Lieder singen und die Franzosen bayerische. Es waren herzliche, bewegende, so begeisterte Tage. Ich wünsche mir, ich wünsche uns allen so herzliche, so bewegende, so begeisterte europäische Tage auch heute. Ich wünsche mir, dass die Städtepartnerschaften, die vor Jahrzehnten entstanden sind, weiter gepflegt und noch intensiviert werde.

Es ist nämlich so: Leute, die sonst dabei waren oder sich interessieren ließen, waren und sind jetzt skeptisch und meinen, „da“ sollte man jetzt nicht mehr hinfahren, wenn die Polen und die Ungarn so nationalistisch werden und rechtsaußen wählen. Das Gegenteil ist richtig – jetzt man erst recht dorthin fahren. Europa muss sich von unten neu entwickeln. Europa muss zur Heimat der Menschen werden.


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