Guten Tag,
es gibt eine wunderbare Geschichte darüber, wie die Gleichberechtigung ins Grundgesetz kam. Ich weiß nicht, ob sich die Sache wirklich so zugetragen hat, wie es diese Geschichte erzählt. Vielleicht ist es ja auch nur eine schöne Legende. Aber dann ist es jedenfalls meine Lieblingslegende, ich erzähle sie gern, weil sie bezeichnend ist – noch heute. Sie stammt aus dem Jahr 1948, aus der Zeit, als dreiunddreißig Fachleute aus den zerbombten Städten der Westzonen zum Verfassungskonvent in der Idylle der Insel Herrenchiemsee zusammenkamen, um eine Verfassung zu entwerfen. Sie haben sich dabei an Martin Luther gehalten: Sie hatten befürchtet, dass die Welt untergeht – und trotzdem die Bäumchen gepflanzt.
Eine Freiheit fehlte
Es war die erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Berufsfreiheit – „Freiheit“ war das Zauberwort nach den Jahren der Unfreiheit. Die Freiheiten waren Garantie und Verheißung zugleich. Aber eine Freiheit fehlte: Die Freiheit der Frau von männlicher Bevormundung, die Befreiung der Frau von der „Folgepflicht“: Der Mann bestimmte „Art und Umfang des Lebensaufwandes, den Ablauf des häuslichen Lebens, die Erziehung der Kinder, Wohnort und Wohnung“. Der Mann hatte „die Herrschaft über das Frauenvermögen“ und er konnte den Arbeitsplatz der Frau kündigen, „sofern die ehelichen Interessen beeinträchtigt sind“. Die Kompetenz der Frau beschränkte sich auf ihre persönlichen Angelegenheiten.
An dieser Stelle beginnt die Geschichte, die ich erzählen will: „Sag mal Carlo, ich finde in den Herrenchiemsee-Protokollen gar nichts zu der Frage der Gleichberechtigung. Wann habt ihr denn das besprochen?“ So fragt Elisabeth Selbert, damals 51 Jahre alt, Rechtsanwältin aus Kassel, ihren berühmten Parteikollegen Carlo Schmid, SPD. Die Beratungen auf der Insel Herrenchiemsee, die bis zum 28. August 1948 gedauert hatten, waren zu Ende, am 1. September trat in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, der auf der Basis des Herrenchiemsee-Entwurfs das Grundgesetz formulierte. Carlo Schmidt und Elisabeth Selbert waren beide für die SPD Abgeordnete im Parlamentarischen Rat.
Nur Herren auf Herrenchiemsee
Carlo Schmid druckste nicht lange herum. „Wann wir die Gleichberechtigung besprochen haben? Gar nicht, waren ja nur Herren anwesend auf Herrenchiemsee.“ Aber der Staatsrechtler aus Württemberg räumte ein: „Die Frauenrechte sind auf dem Stand der Jahrhundertwende, und wenn sich da was ändern soll, brauchen wir eine neue Formulierung im Grundgesetz. Lass es mich doch bitte wissen, wenn Du einen konkreten Entwurf hast.“ Das klang ein wenig gönnerhaft; aber Elisabeth Selbert ließ sich nicht lange bitten: „Den habe ich“, sagte sie: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Das Gleichberechtigungs-Abenteuer
Das galt den meisten Männern damals als eine abenteuerliche Formulierung, völlig inakzeptabel: Das bisherige Recht wird „in sich zusammenfallen“, prophezeite der CDU-Abgeordnete Hermann von Mangoldt. Ohne die Power und ohne die Überzeugungskraft der Elisabeth Selbert hätte es den Gleichberechtigungs-Artikel nicht gegeben. Die am Ende einstimmige Verabschiedung dieses Artikels im Parlamentarischen Rat war ihre Sternstunde. Aber der Gesetzgeber brachte es dann viele Jahre lang nicht fertig, den Verfassungsauftrag einzuhalten. Die Männer im Bundestag warfen ihr Sakko über den Artikel 3 und machten so weiter, wie sie es gewohnt waren: Das Bundesverfassungsgericht musste ihnen diktieren, dass es sich beim Gleichberechtigungsartikel nicht um gehobenes Gedöns handelt, sondern um unmittelbar geltendes Recht: Das höchste Gericht zu Karlsruhe erzwang daher erst einmal das Gleichberechtigungsgesetz, das 1958 in Kraft trat.
Eine neue Wegmarke
Man muss heute an diese Geschichte erinnern, weil die Geschichte der Gleichberechtigung wieder an einer wichtigen Wegmarke steht: In der kommenden Woche, am Donnerstag, den 20. August, und wohl auch noch am Freitag, den 21. August, verhandelt das Landesverfassungsgericht in Potsdam über das Paritätsgesetz des Landes Brandenburg. Die Kritiker dieses Gesetzes, und es sind viele, sagen, man solle es mit der Gleichberechtigung nicht übertreiben. Das Paritätsgesetz hat die hälftige Besetzung des Parlaments mit Männern und Frauen zum Ziel. Es ist so umstritten, wie es 1918/19 im Reichstag das damals eingeführte Frauenwahlrecht und wie es 1948/49 im Parlamentarischen Rat der Gleichberechtigungssatz war. Das Brandenburger Gesetz, es war das erste dieser Art in Deutschland, schreibt bei den Wahllisten ein Reißverschluss-System vor: Die Parteien werden verpflichtet, auf ihren Listen jeweils im Wechsel einen Mann und eine Frau zu nominieren. Wenn sie das nicht tun, ist die Liste ungültig.
Das Verfassungsgericht in Brandenburg verhandelt die Parität
Das Gesetz, abgedruckt im Gesetzblatt des Landes Brandenburg vom 12. Februar 2019, ist am 30. Juni 2020 in Kraft getreten. In Thüringen ist ein ähnliches Gesetz, das später erlassen, aber früher in Kraft getreten ist als das brandenburgische, vor zwei Monaten vom dortigen Landesverfassungsgericht in Weimar verworfen worden. Vom Verfassungsgericht in Brandenburg erhofft sich Rita Süssmuth, die CDU-Feministin und langjährige Bundestagspräsidentin, nun mehr Sinn für die Gleichberechtigung. Es wäre dies, meint sie, ein Signal mitten in der Corona-Krise, in der sich viele Frauen angesichts von Schul- und Kitaschließungen zur „Flucht in die Familie“ gedrängt fühlten.
Die Männerquote wird nur mit einer Frauenquote durchbrochen
Das Paritätsgesetz ist ein Quotengesetz. Kritikerinnen und Kritiker sagen, dass Frauen wegen ihrer Fähigkeiten, nicht wegen einer Quote, ausgewählt werden sollen. Das ist ein Grund für ihre partielle Abneigung gegen gesetzliche Quoten – verständlich, aber falsch. Die gesamte Emanzipationsgeschichte lehrt, dass es ohne konkrete und offensive gesetzliche Hilfe keine Emanzipationsfortschritte gibt.
Quotengesetze sind notwendige und probate Hilfsmittel. Nur auf diese Weise ist die Männerquote zu durchbrechen, die in den Vorständen der Wirtschaft bei fast hundert Prozent und in den Parlamenten bei durchschnittlich siebzig Prozent liegt. Es reicht nicht, wenn Frauen theoretisch alles werden dürfen, sie müssen es praktisch werden können. Eine bloß formale rechtliche Gleichbehandlung führt nicht zur Gleichberechtigung, wenn diese formale Gleichbehandlung auf ungleiche Lebenssituationen von Männern und Frauen trifft. Also müssen Frauenförderungsgesetze einschließlich Quoten, daher müssen Paritätsgesetze verabschiedet werden.
Frauenförderungsgesetze sind keine Übertreibung, Paritätsgesetze auch nicht. Die Warnung vor angeblichen Übertreibungen hatte und hat verschiedenen Zungenschlag, aber immer das gleiche Ziel. Einmal wurde die Bibel beschworen, wonach eine Frau dem Mann untertan sein solle. Ein andermal musste die Natur herhalten, wobei man die natürliche Bestimmung der Frau aus ihrer Gebärfähigkeit herleitete. Wenn den Frauen so der Weg in den Beruf erschwert und der Aufstieg versperrt wurde, geschah das angeblich zu ihrem Schutz. Der erste bundesdeutsche Familienminister Franz-Josef Wuermeling warnte 1953 vor einer „totalen Gleichberechtigung“, die bei Zwangsarbeit für Frauen in Bergwerken enden könnte. Eine restaurative Politik betrachtete Frauen als bessere Haustiere.
Beseitigung bestehender Nachteile
Gegen Quote und Parität wird heute angeführt: Das sei Planwirtschaft, das sei Eingriff in die unternehmerische beziehungsweise politische Freiheit, Verstoß gegen das Leistungsprinzip, Diskriminierung von Männern. Im Grundgesetz heißt es freilich: „Der Staat wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Ein Quoten-Gesetz, ein Paritäts-Gesetz realisiert dieses Gebot auf kluge Weise.
Ich habe diesen Gleichberechtigungs-Newsletter mit einer Geschichte aus den Gründungstagen der Bundesrepublik begonnen, mit einer Geschichte, die vielleicht nur eine Legende ist. Ich schließe meine Werbung für ein Paritätsgesetz mit einem Märchen – dem Märchen von Hänsel und Gretel. Es ist ein besonderes Märchen, weil es mit den klassischen Rollenmustern bricht. In vielen anderen alten Märchen geht die Story so: Die jungen Männer ziehen hinaus in die Welt, sie bestehen dort Abenteuer und kommen als Helden zurück. Die Mädchen aber bleiben zu Hause und warten darauf, dass sie befreit, erlöst oder geheiratet werden.
Das Märchen, das mit den Rollenmustern bricht
Bei Hänsel und Gretel ist das anders: Als die Geschwister sich im Wald verirren, sind sie gemeinsam schwach und stark. Erst die Hexe weist den beiden wieder die klassischen männlichen und weiblichen Rollenmuster zu: Der Hänsel wird eingesperrt, weil er vermeintlich der Stärkere und Gefährlichere ist; die Gretel muss für die Hexe die Dienstmagd machen und für sie das Hexenhaus putzen. Aber dann passiert, womit die Hexe nicht gerechnet hat: Gretel ist mutig und stark, sie wird zur Heldin, die ihren Bruder aus seinem Gefängnis befreit. Sie bricht also aus der Rolle aus, die ihr die Hexe gegeben hat.
Die Justiz sollte sich, wenn sie über das Paritätsgesetz zu urteilen hat, nicht wie die Hexe verhalten.
Das wünscht sich – in diesen für Sie hoffentlich erholsamen Sommer-Sonnentagen
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung