Guten Tag,

ich schaue mit Ihnen heute in eine 75 Jahre alte Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Es ist eine der ersten Nummern, die Nummer 15 des ersten Jahrgangs, vom Freitag, 23. November 1945. Es ist die Zeitung, die über den Beginn der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse berichtet. So steht es damals auf der Seite 1: „Nürnberg, 22. November. Ein Prozess hat begonnen, der nicht seinesgleichen in der Geschichte der Menschheit hat. Am Dienstag, 20. November, um 10 Uhr vormittags, betrat Richter Sir Geoffrey Lawrence, der Vorsitzende des Weltgerichts (…), den Gerichtssaal. Um 10 Uhr 3 Minuten begann der Prozess.“

Gut gekleidet, sorgfältig rasiert

Von einer „Atmosphäre strenger Sachlichkeit“ ist die Rede. Und dann wird die Szenerie geschildert: „Alle Angeklagten sehen gepflegt aus, gut gekleidet, sorgfältig rasiert. Göring, nicht mehr ganz so dick wie früher, saß anfangs mit zusammengekniffenen Lippen da, doch lockerte sich sein Gesichtsausdruck im Laufe der Verhandlung. Manchmal wandte er seinen Kopf nach rechts und ließ seinen Blick über den Saal schweifen. Er schien sich einen Ausdruck der Zuversicht geben zu wollen, ob es ihm glückte, mag dahingestellt bleiben. Er trug einen hellgrau-beigefarbenen Uniformrock mit goldenen Knöpfen, aber von den früheren schwergoldbestickten Rangabzeichen und den unzähligen Orden war nichts mehr zu sehen.

Heß neben ihm wendet sich von Zeit zu Zeit mit kurzen, man könnte meinen, verbissenen Bemerkungen an seine Nachbarn Göring und Ribbentrop. Ribbentrop war zunächst unablässig dabei, sich Notizen zu machen. Dabei schien er zunächst keinen Anteil an der Verhandlung nehmen zu wollen. Später schaute er längere Zeit mit zusammengekniffenen Augen zur Pressetribüne herüber. Der nächste auf der Bank, Keitel, ebenfalls ohne Abzeichen oder Orden, mit leicht nach oben gewandtem Kopf schaut er fast unablässig in die Luft, ähnlich wie Rosenberg und Frank, die mit verschränkten Armen vor sich hinstarren. Rosenberg sieht besonders sorgenvoll und bleich aus. Frick kratzt sich wiederholt nervös am Kopf oder kaut an einem Bleistift. Streicher neben ihm kann nicht ruhig sitzen, rückt hin und her, beugt sich vor, wendet sich nach links und rechts, spielt mit seinem Kopfhörer. Er verdeckt fast völlig seinen Nebenmann Funk, der immer noch fett, in sich zusammengesunken dasitzt und aufmerksam den vor ihm liegenden Text der Anklageschrift verfolgt. Schacht beschließt die erste Reihe.“

Das war die erste Reihe: Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Joachim Ribbentrop, NS-Außenminister. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Hans Frank, höchster Jurist im NS-Reich. Alfred Rosenberg, NS-Chefideologe. Wilhelm Frick, NS-Innenminister. Julius Streicher, Herausgeber des Hetzblattes Der Stürmer. Walther Funk, NS- Reichsbankpräsident.

Was hat Nürnberg gebracht?

Ein knappes Jahr später sprach das Internationale Militärtribunal zu Nürnberg die Urteile gegen Göring und andere: zwölf Todesurteile, sieben Gefängnisstrafen, drei Freisprüche. Die Urteile sollten, so sagte damals der US-Ankläger Justice Jackson, jenen den Krieg vergällen, „in deren Händen sich die Macht und das Schicksal ganzer Völker befinden“. Es war eine rührende Erwartung. Aber immerhin: Es war der historisch erste erfolgreiche Versuch, mit den Mitteln der Justiz eine staatstragende Elite haftbar zu machen für Verbrechen und Gräueltaten.

Was hat Nürnberg gebracht? Wichtigster Inhalt und wichtigstes Ergebnis waren die klassischen Nürnberger Tatbestände: Führen eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Eine weltzynische Rechnung

Nürnberg hat gezeigt, dass das NS-Regime nicht von Marsmenschen errichtet wurde. Nürnberg hat gezeigt, dass es kein Naturgesetz gibt, wonach Staatsverbrecher sich nur vor der Geschichte verantworten müssen. Nürnberg hat zum ersten Mal eine weltzynische Rechnung durchkreuzt. Bis dahin galt: Mit einem einfachen Mörder verhandelt der Richter – mit einem x-tausendfachen Mörder verhandeln die Staatsmänner. So war das bis zu den Nürnberger Prozessen. Die Versuche, diese alte Rechnung nicht nur einmal, sondern ein für alle Mal zu durchkreuzen, gingen langsam voran. Fünfzig Jahre lang geschah gar nichts mehr. Ein neuer Schub für das Völkerstrafrecht kam erst mit der Einsetzung des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag, des UN-Ruanda-Tribunals in Arusha und mit dem Weltstrafgerichtshof in Den Haag, dessen Gründung 1998 eine Staatenkonferenz beschloss und der seit 2003 nach den Nürnberger Prinzipien arbeitet.

Die Deutschen damals: gleichgültig

Die Süddeutsche Zeitung hatte damals, in ihren ersten Tagen, Wilhelm Emanuel Süskind als Sonderberichterstatter nach Nürnberg entsandt (er ist der Vater des Schriftstellers Patrick Süskind und von Martin Süskind, der später das SZ-Hauptstadtbüro in Bonn geleitet hat). Süskind stellte schon in der SZ-Ausgabe vom 30. November 1945 fest, „dass die Haltung des durchschnittlichen Deutschen dem Nürnberger Prozess gegenüber (…) eine Haltung der Gleichgültigkeit ist“. Der SZ-Sonderberichterstatter versuchte, den Prozess als eine „Chance der Erziehung“, als „einen Kursus für öffentliches Leben“ zu beschreiben:

Muss es dröhnen, muss es blitzen?

„Dies ist kein Prozess der äußeren Sensation und Farbenpracht, und es wird schwer sein zu erklären, warum er doch so hinreißt und spannt und den inneren Menschen keinen Augenblick loslässt. Weil es unser Prozess ist, der wahrhaft unsere Sache betrifft? Nicht nur darum. Weil er psychologisch aufschlussreich ist (…)? Auch nicht allein deshalb. Sondern weil er selbst dem juristischen Laien die Schuppen von den Augen reißt. Weil er ein wahrer Ur-Prozess ist – ein erstes Beispiel eines auf Erden noch nicht dagewesenen Rechtsverfahrens, und insofern wirklich ein geschichtlicher Augenblick. Wir sind hergekommen in der falschen, kindlichen Vorstellung vom historischen Augenblick: dass es da unter allen Umständen dröhnen und blitzen müsse. Nun lernen wir: ein geschichtlicher Augenblick kann in dem (…) Gewand eines Gerichtsverfahrens an uns herantreten – sehr still also und nur innerlich dramatisch. Das ist hier und jetzt der Fall.“

Die NS-Psyche

Es ist lohnend zu lesen, wie der Journalismus damals den Kriegsverbrecherprozess begleitet hat. Und es ist lohnend zu lesen, wie die Psychiatrie damals, vor 75 Jahren, die NS-Elite analysiert hat. Im Dienst der US-Army begleitete der Psychiater Douglas M. Kelley vor und am Beginn des Nürnberger Prozesses die Angeklagten, darunter Göring, das „Alpha-Tier“ der Gruppe, der Kelley am meisten faszinierte. Kelleys Aufgabe war es, die psychische Verfassung der inhaftierten Kriegsverbrecher zu untersuchen und sie zu stabilisieren, um ihre Prozessfähigkeit zu erhalten. Der ehrgeizige junge Wissenschaftler nahm dies zugleich als einzigartiges Laboratorium, um die „NS-Psyche“ zu erforschen. Seine bis dahin unveröffentlichten Aufzeichnungen sind in einem Buch des Journalisten Jack El-Hai aus dem Jahr 2013 nachzulesen, es heißt in der deutschen Ausgabe „Der Nazi und der Psychiater“. Kelley brachte sich 1958, wie sein Proband Göring, grausig mit Zyankali um.

US-Präsident Harry S. Truman hatte mit dem Prozess die Hoffnung verbunden, „dass die Öffentlichmachung der Schuld dieser Übeltäter eine allgemeine und anhaltende Abneigung gegenüber Krieg, Militarismus, Angriffskriegen und der Idee rassischer Überlegenheit hervorrufen wird“. Doch worin bestand diese Schuld? Viele meinten, die Täter seien von einem „Nazivirus“ infizierte Verrückte. Auch wenn man einige seiner Ergebnisse heute im Detail kritisieren muss, weil seine psychiatrische Methodik überholt ist: Kelleys Interviews zeitigen eine andere Einsicht. Es ist die Einsicht, dass es sich um zum Teil sehr intelligente Menschen handelt, die einige Merkmale teilen: zügellosen Ehrgeiz, schwach ausgebildete Moralvorstellungen und exzessiven Patriotismus, mit dem fast jede fragwürdige Tat gerechtfertigt wurde.

Starke Triebe

Das sind Eigenschaften, die es auch heute unter Geschäftemachern und Politikern gibt, die hinter überdimensionierten Schreibtischen überdimensionierte Entscheidungen treffen. Kelleys unbequemes Fazit war: „Solche Menschen gibt es überall auf der Welt. Sie haben keine geheimnisvollen Persönlichkeitsmuster. Aber sie haben starke Triebe, und sie wollen an die Macht.“ Kelley nahm kein Blatt vor den Mund: „Es gibt selbst hier in den USA Leute, die über die Leichen der Hälfte der amerikanischen Bevölkerung gehen würden, um die andere Hälfte unter ihre Kontrolle zu bringen. Bisher reden diese Personen nur, aber sie setzen schon heute ihre demokratischen Rechte antidemokratisch ein.“

Die Warnung von Görings Psychiater

Keine Gesellschaft sei immun gegen Nazismus, meinte Kelley. Aus diesem Grund hielt er es für dringend notwendig, dass die Amerikaner Personen mit solchen Persönlichkeitsstrukturen davon abhalten, die politische Macht zu ergreifen. Er warnte seine Mitbürgerinnen und Mitbürger davor, Kandidaten zu wählen, die politisches Kapital aus Rassen- oder Glaubensunterschieden schlagen.

Es gruselt einen, wenn man das heute, viele Jahrzehnte später, im Licht der Präsidentschaft von Donald Trump liest.

Ich wünsche Ihnen trotz alledem, trotz Pandemie und einer schier außer Fugen geratenen Welt möglichst gute Novembertage.

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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