Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist Zeit für die Geburtstagsgeschenke. Die Grünen in Deutschland werden in ein paar Tagen vierzig Jahre alt: Am 13. Januar 1980 wurde die Partei in Karlsruhe gegründet. Ist die neue Koalition in Österreich nicht nur eine neue Regierung in Wien, sondern auch so eine Art Geburtstagsgeschenk, ist sie ein Modell für Deutschland?
Ein Wiener Vorspiel?
Womöglich ist die Koalition des wieder designierten ÖVP-Kanzlers Sebastian Kurz mit den Grünen in Wien ein Exempel für das, was es auch in Berlin in zwei Jahren geben könnte. Werden die Schwarzen von der CDU/CSU, die in Österreich türkis-farben sind, ein neues Bündnis wagen? Und werden die deutschen Grünen dann so nachgiebig sein wie die in Österreich? Sebastian Kurz hat soeben bei der Vorstellung des Regierungsprogramms gesagt: „Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen.“ Ist so ein Satz auch mit einer schwarz-grünen Koalition in Deutschland denkbar?
Werden die Grünen hierzulande so etwas auch mit sich machen lassen? Werden sie gegebenenfalls für das Klima auf fast alles andere verzichten? Werden sie, wie jetzt die Grünen in Österreich, eine prügelharte Ausländer- und Asylpolitik in Kauf nehmen? Eine harte Migrationspolitik, so hat es Kurz angekündigt, soll das Herzstück auch der neuen Regierungspolitik bleiben; sie war es schon in seiner alten Regierung mit dem rechten FPÖ-Vizekanzler Strache. Die Grünen haben ein Kopftuchverbot für Kinder bis zum Alter von 14 Jahren akzeptiert. Und sie haben die Ankündigung von Kurz geschluckt, dass seine ÖVP im Fall einer neuen „Flüchtlingswelle“, wenn man sich in der Regierung nicht einigen kann, eine Lösung mit der FPÖ versuchen werde.
ÖVP-Konzept mit ein bisschen Klima
Werden sich die Grünen in Deutschland, wie jetzt die Grünen in Österreich, eine rechtskonservative Sicherheitspolitik aufzwängen lassen? Die Grünen in Wien haben soeben die Einführung der sogenannten Vorbeugehaft hingenommen, die sie bisher stets heftig bekämpft hatten. Die Grünen übernehmen zwar die Ministerien, die ihnen besonders wichtig sind (Umwelt und Verkehr, Soziales und Gesundheit), allerdings beschnitten um wichtige Abteilungen, die der ÖVP zugeschlagen wurden.
Kritiker reden „von einem ÖVP-Konzept mit ein bisschen Klima“, das da vorgelegt worden ist. Die Grünen hätten der Volkspartei ein wenig Modernisierung spendiert, indem sie ihr den Einstieg in den ohnehin nötigen Umstieg in der Energiepolitik erleichtert hätten. Also lautet die Jubiläumsfrage an die Grünen in Deutschland: Sind die Grünen zuständig dafür, gehackte Petersilie auf ein konservatives Programm zu streuen?
Robert Habeck, einer der beiden Grünen-Chefs in Deutschland, bestreitet das natürlich; er bestreitet auch, dass der seltsame Wiener Koalitionsvertrag ein Modell für Deutschland sein könnte. Es ist so: Die Grünen in Österreich sind der kleine Koalitionspartner; bei den Nationalratswahlen haben sie 13,9 Prozent erzielt, die ÖVP kam auf stattliche 37,5 Prozent. Die Grünen in Deutschland hoffen darauf, dass die Unterschiede in Deutschland nicht so groß sein werden: In den Umfragen kommen die Grünen derzeit auf gut 21 Prozent (bei der letzten Bundestagswahl kamen sie nur auf 8,9 Prozent), die Union kommt auf etwa 28 Prozent.
Nicht an der Macht, aber an der Regierung
Regieren essen Seele auf? Die Grünen in Deutschland haben diese Erfahrung schon einmal gemacht: Im September 1998 begann Rot-Grün. Es erfüllte sich ein grüner Traum und es begann das Träumen der Grünen: eine Art Entfärbung der grünen Partei. Sie vergaßen damals im Rausch des Anfangs vorübergehend, in welch schlechter Position man das Abenteuer des Regierens begonnen hatte: Da war einmal das damals ziemlich schlechte Wahlergebnis der Grünen (es waren 6,7 Prozent; die SPD hatte 40,9 Prozent). Da war zum anderen der ungeheuer große Erwartungsdruck der eigenen Klientel: Einerseits hatte diese apodiktisch gefordert, dass, wenn Rot-Grün eine Mehrheit hat, es auch Rot-Grün geben muss – ganz gleich, was bei den Koalitionsverhandlungen herauskommt. Andererseits erwartete die Parteibasis, dass ihre Partei in hundert Tagen, spätestens aber in einem Jahr, sechzehn Jahre Kohl auslöschen würde.
1998 gab es die erste rot-grüne Regierung in Deutschland.
Doch die deutschen Grünen mussten damals in der Koalition mit der SPD alsbald feststellen, was die Grünen in Österreich in der Koalition mit der ÖVP feststellen müssen: Sie waren nicht an der Macht, sondern nur an der Regierung, und dort waren sie die Kleinen. Und in der Regierung wurden sie in sieben Jahren nach 1998 irre an sich selber. Sie wussten nicht mehr, was sie sind und was sie sein sollen. Und bald wussten sie auch nicht mehr: Was ist eigentlich grün? Bis zur rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer war die grüne Partei auch ein Gefäß für viele alternative Gruppen und Bewegungen gewesen: für die radikalen Pazifisten, für die Menschenrechts- und Asylgruppen, für die vielen kleinen Nichtregierungsorganisationen von den kritischen Polizisten bis hin zu den Ärztinnen gegen den Atomkrieg; sie alle litten jetzt, spätestens von 1999 an, an dem Gefühl, ihre Heimat zu verlieren.
Als die Grünen den Flecktarn aus dem Spind holten
Kaum hatten die Grünen damals, vor 21 Jahren, mit der Schröder-SPD die rot-grüne Bundesregierung gebildet, hängten sie ihren Pazifismus an den Nagel, zogen den Flecktarn aus dem Spind und stimmten dem Kampfeinsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg zu. Die Befürworter der Bombardierung sprachen von der grünen Anpassung an die Realität. Also: Was für die Grünen gestern noch Kennzeichen des politischen Gegners gewesen war, galt den Regierungsgrünen nun auf einmal als Indiz für ihre eigene Innovations-, Anpassungs- und Verwandlungsfähigkeit.
Das ist nun lange her. Was einst den Grünen in der Koalition mit der Schröder-SPD passiert ist, dass nämlich ihr Nimbus zerbröselte. Das ist zuletzt der SPD in der Koalition mit der Merkel-CDU/CSU passiert. Den deutschen Grünen freilich ist es unter den Vorsitzenden Habeck und Annalena Baerbock binnen kurzer Zeit gelungen, den Zeitgeist wieder in ihre Partei zu holen.
Der Zeitgeist ist Jubiläumsgast
Die Grüne waren sich viele Jahre lang, von der Gründung an, sicher, dass der kritisch-aufgeklärte Zeitgeist ihr Stammgast ist. Diese Sicherheit hatte die Grünen dann in den Jahren der rot-grünen Koalition unter Schröder verlassen. Jetzt ist der Zeitgeist wieder da. Der Zeitgeist ist ein Jubiläumsgast der Grünen; Fridays for Future hat die Klimapolitik als ein Hauptthema der Grünen ganz nach vorne geschoben. Und die Grünen sind die Antipoden der AfD. Sie, nicht die SPD und schon gar nicht die Union, sind diejenigen, die als Hauptgegner der AfD wahrgenommen werden.
Grün ist das neue Rot geworden. Der Kellner von einst aus den Schröder-Zeiten ist zum Koch avanciert, und aus der SPD, dem Koch von einst, ist der stolpernde Kellner geworden. Es hat also einen großen Rollentausch gegeben. Die Grünen sind das geworden, was vor Jahren noch die SPD war. Bei ihrer jahrelang schwachbrüstigen Sozialpolitik haben die Grünen nachgelegt; von der schwarzen Null haben sie sich verabschiedet. Die Grünen sind derzeit die politische Kraft links von der CDU, die das Wort Kraft verdient.
Ein Kanzlerkandidat, eine Kanzlerkandidatin?
Die Grünen sind heute, in ganz anderen politischen Konstellationen als in der alten Bundesrepublik, das, was damals die FDP war – die Partei, die bestimmen kann, wer regiert. Sie spielen diese Rolle aber in einer ganz anderen Liga als damals die FDP. Die Grünen spielen diese Rolle derzeit, jedenfalls in den Umfragen und zumal in Baden-Württemberg, hochprozentig. Als seinerzeit die FDP zu Zeiten von Guido Westerwelle einen Kanzlerkandidaten präsentierte, war das eher ein Witz. Wenn die Grünen das heute täten oder tun, dann ist das keiner. Die grüne Partei ist ziemlich weit oben angelangt. Und diese Chancen zu verspielen, das können nur sie selber tun.
Die Grünen sollten den Wiener Koalitionsvertrag sehr genau studieren. Und sie sollten sich darauf vorbereiten, es anders zu machen. Das ist, das wäre ein guter Vorsatz zum vierzigjährigen Jubiläum.
Die Geburtstagsbilanz
Und bis dahin darf man sagen: Die Grünen haben sich um das Land verdient gemacht. Ohne sie wäre Ökologie in Deutschland noch ein Fremdwort. Ohne sie wäre unser Land ein Entwicklungsland in der Umweltpolitik. Ohne sie wäre die liberale und ökologische Demokratie schwächer hierzulande. Das ist eine ganz respektable Geburtstagsbilanz für die vierzigjährige Partei.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser meines Newsletters, einen wunderbaren Jahresauftakt – und die Kraft, die Energie und Gelassenheit, die man braucht, wenn man Wichtiges vor sich hat.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung