Guten Tag,
wann ist der Skandal ein Skandal? Wann muss ein Minister zurücktreten, und wann darf er bleiben? Ab wann ist ein Politiker ein Amigo, und wann ist ein Amigo untragbar? Warum kann sich ein Andreas Scheuer halten, und warum mussten andere Ministerinnen und Minister aus vergleichsweise nichtigem Anlass gehen? Wann führt ein Fehltritt zum Rücktritt? Wo ist die Maßeinheit für Fehler und Schäden – und wann führen die zur Entlassung?
Wenn man ein Jurist ist, sucht man nach der Klarheit, mit der ein gutes Strafgesetzbuch seine Tatbestände formuliert: „Mit Entlassung wird bestraft, wer …“. Ja wer? Wer seinen Friseur zu Unrecht dienstlich abrechnet? Wer seine Putzfrau mit Steuergeldern finanziert? Wer auf fremde Kosten Urlaub macht? Wer seinen Dienstwagen für private Zwecke einsetzt? Wer Bundeswehrflugzeuge für private Reisen nach Mallorca nutzt? Wer sich seinen Doktortitel durch Plagiate verschafft hat? Wer die Öffentlichkeit über seine persönlichen Dinge belügt? Wer sich in den Verdacht der Vorteilsannahme bringt? Wer in illegale Abhöraktivitäten verwickelt ist? Wer für tödliche Fehler bei der Arbeit der Geheimdienste verantwortlich ist?
Erinnerungslücken, Inkompetenz
Wenn einer als Bundestagspräsident eine Rede hält, bei der der falsche Eindruck entsteht, er distanziere sich nicht genügend von NS-Gedankengut – muss er dann wegen rhetorischer Inkompetenz zurücktreten?
Und wenn einer durch fachliche Inkompetenz und politische Geltungssucht unermesslichen finanziellen Schaden anrichtet? Wenn er das dann im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu vertuschen sucht? Das alles wird dem Bundesverkehrsminister und früheren CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer zu Recht vorgeworfen. Geheimgespräche mit Maut-Managern wurden ohne Protokoll geführt. Millionenkosten wurden trickreich versteckt. Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss hat sich Andreas Scheuer dann auf Erinnerungslücken berufen. Und wenn es ihm zu kritisch wurde, hat er die Verantwortung auf seine Mitarbeiter abgeschoben.
Mangelnde Skandalisierungskraft
In normalen Zeiten wäre so einer, wie man so sagt, in der Luft zerrissen worden. Aber in Corona-Zeiten finden solche Dreistigkeiten nicht die Behandlung, die sie sonst erführen. Unter Corona leidet die notwendige Skandalisierungskraft der Öffentlichkeit. In anderen Zeiten wäre es auch kaum denkbar, dass man der Kanzlerin, dem CSU-Chef und dem Koalitionspartner SPD ihre Indolenz, ihre Duldsamkeit, im Umgang mit dem Minister Scheuer einfach so durchgehen lässt.
Der SZ-Kollege Markus Balser schreibt dazu in seinem Kommentar: „Die Indizien für Gesetzesverstöße wie dem Bruch von Haushalts- und Vergaberecht durch den Verkehrsminister Scheuer sind längst erdrückend. Der Bundesrechnungshof warf Scheuer das bereits schriftlich vor (…) Weil Scheuer Milliardenverträge abschloss, ohne Rechtssicherheit zu haben, drohen dem Steuerzahler Schadenersatzzahlungen von mehr als eine halben Milliarde Euro.“
Ein Bierzelt-Projekt der CSU, in Berlin betrieben
Drei Spitzenvertreter des Maut-Bieterkonsortiums haben im Untersuchungsausschuss bestätigt, dass es von ihrer Seite am 29. November 2018 das Angebot an den Minister gab, mit der Unterzeichnung der Mautverträge bis nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu warten – das hätte dem Steuerzahler einige Hundertmillionen Schadenersatz erspart. Scheuer lehnte das strikt ab, er wollte das Projekt unbedingt durchdrücken, ohne Rücksicht auf Verluste. Warum? Die Ausländermaut war das Wahlkampfprojekt der CSU gewesen, der damalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer, heute Bundesinnenminister, war die treibende Kraft, der damalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und der damalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer trieben heftig mit. Es war, so muss man es sagen, ein Bierzelt-Projekt.
Dobrindt ist heute Landesgruppenchef der CSU im Bundestag. Und Scheuer, Dobrindts Nachfolger als Verkehrsminister, hat dann den europawidrigen Plan final exekutiert – bis er vom Europäischen Gerichtshof beendet wurde. Söder müsste daher eigentlich das gesamte Spitzenpersonal der CSU in Berlin abziehen – Seehofer, Dobrindt und Scheuer. Aber im Herbst ist Bundestagswahl. Söder kann und will nicht tun, was er eigentlich tun müsste. In diesem Fall zeigt sich eine peinlich-skandalöse Rücktrittsvergessenheit.
Es gibt auch Rücktrittskultur
Man darf aber darüber nicht vergessen, dass es auch eine Kultur des Rücktritts gibt. Namen wie Heinemann, Eppler und Leutheusser-Schnarrenberger stehen für Demissionen, die Grund zur Bewunderung sind. Gustav Heinemann trat als Bundesinnenminister 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zurück; Erhard Eppler 1974 als SPD-Entwicklungshilfeminister, weil er den zusammengestrichenen Entwicklungshilfehaushalt nicht verantworten wollte; Sabine Leutheusser-Schnarrenberger 1995 als FDP-Justizministerin, weil sie den Lauschangriff ablehnte.
Wenn das Wort von der Glaubwürdigkeit der Politik nicht ganz verkommen ist, dann liegt das an solchen Namen. Und es liegt auch an den wenigen Politikern, die zurückgetreten sind, weil sie Verantwortung für Malaisen übernahmen, für die sie persönlich nichts konnten: Rudolf Seiters (CDU) stellte 1993 sein Amt als Innenminister zur Verfügung – nach dem tödlichen Desaster bei der RAF-Fahndung am Bahnhof von Bad Kleinen. Die Pragmatiker der Macht lächeln über so einen Rücktritt, weil er, wie sie sagen, unnötig gewesen sei. Dafür aber gilt Seiters bei allen Parteien als ein Mann von Anstand. Er war dann von 2003 bis 2017, höchst ehrengeachtet, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.
Wer verdient einen Verdienstorden?
Andreas Scheuer ist ein Minister, der nicht mehr Minister sein dürfte. Er ist es und er bleibt es, weil den Entscheidern seine Entlassung derzeit nicht in den Kram passt. Irgendwann, wenn Gras über die Maut gewachsen ist, wird Scheuer dann wohl den Bayerischen Verdienstorden kriegen.
Ich schreibe das mit einiger Bitterkeit, weil dieser Orden einem Mann, der ihn wirklich verdient hat, verweigert wird. Verdient hätte ihn Hans Schuierer, der ehemalige Landrat von Schwandorf, der am Samstag neunzig Jahre alt geworden ist. Er war der Held von Wackersdorf, er ist ein Pionier des Ausstiegs aus der Atomkraft. Als im Dezember 1985 mit dem Bau der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage begonnen wurde, ließ sich der Landrat Schuierer, ein gelernter Mauerer, nicht einschüchtern und nicht unterkriegen.
Hans Schuierer, der Wackere von Wackersdorf
Die WAA Wackersdorf war das politisch umstrittenste Bauprojekt der 1980er Jahre in der Bundesrepublik, das Vorzeigeprojekt der CSU (dreißig Jahre später war dann die Autobahnmaut für Ausländer so ein Vorzeigeprojekt). Die WAA war Symbol für die Atompolitik der Bayerischen Staatsregierung. Wackersdorf zu verhindern, war ein Erfolg der kleinen Leute, die sich auflehnten, als die CSU ihre Heimat zur strahlenden Heimat machen wollte. Hans Schuierer, der Landrat von der SPD, war die Speerspitze der kleinen Leute. Er war das Gesicht des Widerstands, er war der Gegner des damaligen CSU-Chefs und Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, der den Leuten weismachen wollte, so eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage sei „nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichen-Fabrik“.
Bis 1996, ein Vierteljahrhundert lang, blieb Schuierer im Amt – er war ein Kümmerer, immer wiedergewählt mit fantastischen Wahlergebnissen. Der oberpfälzische Journalist Wolfgang Houschka, der als Reporter der Zeitung „Der neue Tag“ den Politiker Schuierer jahrzehntelang begleitete, hat in seinem Geburtstagsartikel beschrieben, warum das so war; er erzählt von einem Sommerabend am Volksfestbiertisch, lange vor der WAA: „Es ging auf Mitternacht zu, als eine Frau an den Landrat Schuierer herantrat und ihm ihre fatale Situation schilderte: Alleinerziehend, drei Kinder daheim, von der Sozialhilfe vertröstet, wenig Essbares für das Wochenende im Kühlschrank. Da zog er das Portemonnaie, gab seiner Gesprächspartnerin einen Geldschein und sagte: ‚Am Montag kommen Sie in mein Büro. Dann schauen wir weiter'“. So einer war, so einer ist Hans Schuierer.
Souveräne Landesväterlichkeit?
So einer hat einen Verdienstorden verdient. Und es stünde einem CSU-Ministerpräsidenten gut an, so einem Mann seinen Respekt zu zeigen. Aber Markus Söder war es, der schon vor zwei Jahren dem alten Landrat den Respekt verweigerte. Als damals Hans Schuierer bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises an den Dokumentarfilm „Wackersdorf“ zur Ehrung auf die Bühne trat, standen die Gäste auf und applaudierten – nur der Gastgeber, Ministerpräsident Markus Söder, applaudierte nicht. Souveräne Landesväterlichkeit sieht anders aus. Einen Glückwunsch zum neunzigsten Geburtstag an Hans Schuierer …
… und uns allen eine Woche, in der trotz Corona die Hoffnung wieder Atem bekommt.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung