Sehr geehrte Damen und Herren,

der Sankt-Martins-Tag am Montag ist ein Festtag nicht nur für die Kinder, die mit ihren Laternen in die Weihnachtszeit hineinlaufen. Er ist ein Festtag für alle, die Europa mit Herz und Seele suchen. Sankt Martin ist ein europäischer Heiliger, er ist der europäische Heilige; er ist eine Gestalt aus den Urtagen Europas.

Die Legende, die sich mit Sankt Martin verbindet, geht so: Bevor er, es war im vierten nachchristlichen Jahrhundert, Bischof von Tours wurde, war er römischer Soldat in der kaiserlichen Reiterei. An einem Wintertag begegnete ihm ein frierender Bettler. Weil Martin außer seinen Waffen, seinem Militärmantel und seinem christlichen Glauben nichts bei sich trug, teilte er den Mantel mit dem Schwert und gab die eine Hälfte dem Armen. In der folgenden Nacht, so die Legende, sei ihm dann im Traum Christus erschienen, bekleidet mit dem halben Mantel, den Martin dem Bettler geschenkt hatte.

Mantel oder Handtuch?

Wie viel Mantel braucht der Mensch? Einen halben? Einen ganzen? Genügt auch ein Handtuch? Genügt ein Topflappen? Der Mensch braucht zumindest so viel Mantel, dass er nicht friert, dass er Mensch sein kann. Das ist die Botschaft des Sankt-Martins-Tags. Martins Mantel, lateinisch cappa, gehörte einst zum Kronschatz der fränkischen Könige, reiste mit ihnen von Pfalz zu Pfalz. Der Name „Kapelle“ leitet sich von dem Ort ab, an dem diese cappa aufbewahrt wurde. Vielleicht wäre es gut, so habe ich vor einiger Zeit einmal sinniert, wenn die EU-Kommissare nicht Kommissare, sondern Kapellane heißen würden – um deutlich zu machen, dass zu Europa essentiell die Kultur des Teilens gehört, also die soziale Gerechtigkeit.

Der Heilige der Solidarität

Die Sankt-Martins-Geschichte ist eine europäische Gründungserzählung. Sie lehrt zu begreifen, dass es eine Schnapsidee ist, Europa mittels Wettbewerb und Konkurrenz schaffen zu wollen. Europas Ur-Idee ist das Einstehen für einander; man nennt das Solidarität. Sankt Martin ist der Heilige des Teilens, er ist der Heilige der Solidarität. Wenn die Gewerkschaften einen Heiligen bräuchten, um wieder zu Kräften zu kommen: Hier ist er. Wenn Europa einen Heiligen braucht, sich auf seine Seele zu besinnen: Hier ist er! Es geht heute darum, die Vision, die Utopie von einer solidarischen Gesellschaft neu zu beleben.

Für Griechenland gibt es keine Sankt-Martin-Lösung

Griechenland hat von dieser Solidarität in seiner großen Krise nichts gespürt. Die Bevölkerung dort büßte, so forderte es das Europa von Wolfgang Schäuble und Co., für die Schulden der Banken. Das öffentliche Eigentum wurde in Griechenland eingestampft: Ob Häfen oder Flughäfen, Unternehmen der Strom- und der Wasserversorgung – alles wurde privatisiert und verscherbelt auf Teufel komm raus. Die Phantasie mancher Politiker hierzulande machte nicht einmal davor halt, den Griechen den Verkauf einiger ihrer Inseln anzuraten. Um die Rückzahlung der Schulden durchzusetzen, wurde Griechenland in eine Art Protektorat verwandelt. Die St.-Martin-Lösung war das nicht.

Europa als Heimat

In Spanien waren vor ein paar Jahren Demonstranten wochenlang zu Fuß nach Madrid unterwegs, um den „sozialen Notstand“ im Land anzuprangern. „Die Krise sollen die Banker zahlen“ und „Brot, Arbeit und Wohnung für alle“ stand auf ihren Plakaten. Solche Forderungen sind verständlich, richtig und gerecht. Es reicht nicht, wenn die Europapolitiker mit Pathos von der Friedensgemeinschaft Europa reden. Es reicht nicht, wenn sie auf die Reisefreiheit hinweisen, auf das Europa ohne Grenzen. Erst eine kluge, fürsorgliche und solidarische Sozialpolitik macht aus der EU eine Heimat für die Menschen, die darin leben.

Die EU ist stolz auf die Freizügigkeit ihrer Bürger. Bisher ist es aber mit der Freizügigkeit in Europa so: Von Norden nach Süden reist man – in die Ferien, zur Erholung, zum Ausspannen, zum Genießen. Von Süden nach Norden migriert man – zum Arbeiten, um existieren zu können. Solange das so einseitig und gegenläufig ist, so lange ist Europa keine runde Sache. So vermählt man Europa nicht mit der Zukunft. Die Staaten Südeuropas müssen geheilt werden von den Wunden, die der Finanzkapitalimus geschlagen hat.

Europa als Chancenvermehrungs-Kontinent

Die Gesellschaften in Europa sehen sich in einem Spiel, das so ähnlich funktioniert wie die „Reise nach Jerusalem“. Sie kennen das Spiel vielleicht von Kindergeburtstagen. Es geht so: Die Teilnehmer stellen sich dabei neben den Stühlen auf, die im Kreis angeordnet sind. Sobald die Musik ertönt, laufen alle im Kreis um die Stühle herum. Wenn die Musik abbricht, muss ein Jeder versuchen, sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen. Im Spiel scheidet stets ein Spieler aus, weil eine Sitzgelegenheit zu wenig aufgestellt ist. Im wahren Leben ist es viel schlimmer: Es unterscheidet sich in Spanien, Griechenland, Italien, Österreich oder Deutschland dadurch, wie viele Stühle weniger aufgestellt sind. Und weil die Musik zu selten spielt, bleiben die sitzen, die schon sitzen, und die stehen, die schon stehen. Eine mobile Gesellschaft ist das nicht. Es ist eine, in der Junge viel zu wenig Chancen haben. Europa muss, auch unter Einsatz von ungeheuer viel Geld, ein Chancenvermehrungs-Kontinent für Jugendliche werden.

In der Politik braucht es Menschen mit Martinsmut

Zur berühmten europäischen Martinslegende vom geteilten Mantel, die in diesen Tagen in unzähligen Aufführungen in Schulen, Kindergärten und bei Martinsumzügen nachgespielt wird, müsste man eine zweite, weniger bekannte Erzählung gesellen. Sie handelt davon, wie Martin einen falschen Heiligen entlarvt hat. Martin hatte sich, so geht die Geschichte, vom Trubel der Bischofskirche zurückgezogen und ein Kloster außerhalb erbaut. Ganz in der Nähe dieses Klosters lag ein Ort, der als Heiligtum verehrt wurde, weil dort das Grab eines Märtyrers sein sollte. Martin war neugierig, was es mit dessen Heiligkeit auf sich hatte, forschte nach, fand aber nichts und mied die Stätte darum. Eines Tages wollte er es genau wissen, ging zu dem Grab und flehte Gott an, das Geheimnis zu lüften. Da sah er neben sich einen schmutzigen grimmigen Schatten stehen. Martin befahl ihm, Namen und Verdienst zu nennen. Da gab dieser zu, dass er ein Räuber und Nichtsnutz war und nur durch einen Irrtum zu Heiligkeit gelangt sei. Martin ließ den Altar daraufhin abreißen, und es hatte ein Ende mit der Verehrung des falschen Heiligen.

Es täte Europa gut, wenn es mit der Heiligung des Konkurrenzprinzips ein Ende hätte und die Verehrung des Wettbewerbs entzaubert würde. Sie haben sich in der Bevölkerung bereits selbst entzaubert durch die Zerstörungen, die sie während der Finanzkrise angerichtet haben. Es braucht aber Menschen mit einem Martinsmut in der Politik, die ein paar ihrer Altäre abreißen, die scheinbar so fest in den Europäischen Verträgen verankert sind.

Nutzgemeinschaft, Schutzgemeinschaft

Es braucht sozialen Schutz in Europa, es braucht Schutz, Fürsorge und Förderung. Wenn die sozialstaatlichen Ordnungen in den Nationalstaaten bröckeln, muss die Europäische Union versuchen, die Gesellschaften wieder zu stärken und zu stabilisieren. Es reicht nicht, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, dass in einer globalisierten Welt ein einzelner Nationalstaat nicht gut bestehen kann. Die Menschen müssen spüren, dass die EU nicht nur Nutzgemeinschaft ist für Wirtschaft und Finanzindustrie, sondern Schutzgemeinschaft für sie, die Bürger.

Der Sozialstaat gehört zu den größten Errungenschaften der europäischen Geschichte. Das muss so bleiben. Europa muss Heimat werden für die Menschen. Rabimmel, rabammel, rabumm. Die europäischen Sterne sollen leuchten. Trotz alledem. Trotz Brexit. Oder gerade deswegen.

Das wünscht sich und Ihnen

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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