Sehr geehrte Damen und Herren,
die Flüchtlinge flüchten, weil sie nicht krepieren wollen; aber nicht nur deswegen. Viele flüchten, weil sie noch flüchten können, weil sie noch genug Kraft haben, weil sie noch Zukunftshoffnung, weil sie noch genug Geld haben, um wegzukommen aus ihren „failed states“ – Geld, das von ihren Familien aufgebracht wird. Sie sind jung. Und das Fernsehen und die Bilder in den sozialen Netzwerken locken noch in den dreckigsten Ecken der Elendsviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses.
Das Problem des 21. Jahrhunderts
Das Fluchtproblem ist nicht nur ein Problem einiger weniger Jahre. Es ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen wieder eine Heimat zugeben. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um Menschen in höchster Not, um Menschen in allerhöchster Lebensgefahr, um Flüchtlinge aus dem Meer vor dem Ertrinken zu retten. Dann werden es kleine Vereine wie „Sea Watch“ sein, die für die großen humanitären Traditionen Europas stehen; sie werden es sein, die das gute Europa repräsentieren.
„Sea Watch“, ein Seenotrettungsverein aus Berlin, ist soeben im Historischen Rathaussaal zu Osnabrück mit dem Erich-Maria-Remarque-Sonderpreis ausgezeichnet worden. Es ist dies der Ort, an dem 1648 der Westfälische Frieden geschlossen wurde. Es wäre an der Zeit, dass Europa seinen Frieden mit der Migration sucht: Es muss in sichere Fluchtwege investiert werden, nicht in die Kooperation mit der libyschen Küstenwache, die die Flüchtlinge in die Elendslager zurücktreibt.
Carola Racketes Chef
Johannes Bayer, der junge Vorsitzende von „Sea Watch“, hat den Friedenspreis entgegengenommen. Er war bei zahlreichen Einsätzen zur Rettung von Flüchtlingen aus Seenot dabei. Kaum jemand kennt seinen Namen, den Namen einer seiner Kapitäninnen kennen dafür umso mehr: Carola Rackete. Leute wie Bayer und Rackete riskieren Strafverfolgung für das, was sie tun: humanitäre Nothilfe leisten.
Der private Verein „Sea Watch“ fordert von Europa, wieder staatliche Rettungsaktionen aufzunehmen – Aktionen wie „Mare Nostrum“ der italienischen Marine, die 2013/2014 so viele Menschen gerettet hat; 130 000 waren es in einem Jahr. Viele der Menschen, die jetzt von privaten Vereinen aus Seenot gerettet werden, sagen, dass sie lieber auf See sterben wollen, als noch einmal nach Libyen zurück zu gehen. Die Zustände in den Lagern dort sind grauenvoll. Die EU freilich kooperiert mit der libyschen Küstenwache. Das ist keine Flüchtlingspolitik. Das ist ein Verbrechen.
Die privaten Vereine stehen für das, was Europa eigentlich sein will
„Sea Watch“ wurde geehrt stellvertretend für alle privaten Vereine, die durch beherzte Einsätze Flüchtlinge retten und bisweilen ähnliche Namen tragen, „Sea Eye“ aus Regensburg zum Beispiel, dessen Rettungsschiff Alan Kurdi immer wieder von libyschen Milizen bedroht wird. Es ist gut, wenn „Sea Watch“ und „See Eye“ kooperieren, es ist gut, wenn die privaten Flüchtlingsrettungsvereine das tun, was die nationalen Regierungen nicht machen: bei der Hilfe für Flüchtlinge gut zusammenarbeiten. Diese Vereine stehen für ein Europa, das die EU eigentlich sein will: ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Das Sterben im Mittelmeer ist eine permanente Katastrophe. Zweieinhalbtausend Menschen starben im Jahr 2018 bei dem Versuch, Europas Küsten zu erreichen. Jeden Tag, so sagt es das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sterben vier Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer. An solche Zahlen darf man sich nicht gewöhnen. Die Rettungsaktionen von „Sea Watch“ und Co sind Aktionen gegen den inhumanen Fatalismus.
Gibt es Flüchtlinge, die „hilfsunwürdig“ sind?
Rechtsaußen-Politiker wie der frühere italienische Innenminister Matteo Salvini wollen, um Flüchtlinge abzuschrecken, dem Satz „Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um“ zur Geltung verhelfen. Dies widerspricht jedem Seevölkerrecht. Das Seevölkerrecht fordert Rettung, es fragt nicht nach dem Grund der Not. Die Not der Flüchtlinge ist, wenn sie am Ertrinken sind, nicht geringer, weil zuvor Schlepper mit dieser Not ihr widerliches Spiel treiben und getrieben haben. Not ist Not.
Salvini und seine Gesinnungsgenossen dagegen erklären Flüchtlinge in Seenot für hilfsunwürdig – weil sie sich ja selbst in Gefahr gebracht hätten. „Hilfsunwürdig“? Das ist die Umwandlung elementarer Rechtspflichten in perverse Unrechtspflichten. Hilfsunwürdig? Gäbe es diese Kategorie wirklich, dann dürfte das Rote Kreuz Autofahrenden nicht mehr helfen, die wegen zu hoher Geschwindigkeit an den Baum gefahren sind. Es dürfte Opfer nicht mehr ins Krankenhaus bringen, die betrunken einen Verkehrsunfall gebaut haben. Die Gedanken der populistischen Extremisten sind abgründig, sie sind eine Gefahr, in der das Recht umkommt. Und viele EU-Politiker sind die Täter hinter diesen rechtspopulistischen Tätern.
Das alte kompromisslose Asylgrundrecht war eine notwendige Mahnung
Ich habe im Friedenssaal zu Osnabrück die Laudatio auf „Sea Watch“ halten dürfen, wohl deswegen, weil ich, seitdem ich vor über dreißig Jahren Journalist geworden bin, für Humanität im Umgang mit Flüchtlingen werbe. Vielleicht war und bin ich deshalb kein neutraler Laudator. Ich will auch nicht neutral sein – ich bin froh, dass „Sea Watch“, „Sea Eye“ und Co nicht neutral sind, dass diese privaten Flüchtlingsrettungsvereine auch strafrechtliche Verfolgung riskieren, um Flüchtlinge zu retten.
Ich war und ich bin dagegen, Flüchtlinge absichtlich schlecht zu behandeln, um auf diese Weise angebliche „Anreize“ zu begrenzen. Ich war und bin dagegen, dass Asylpolitik gemacht wird nach dem Motto „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“; Flüchtlinge, Flüchtlingsfamilien sind keine Späne. Ich war und bin dagegen, dass über Menschen mit juristischen Fiktionen entschieden wird; zu den juristischen Fiktionen gehörte und gehört das Modell der angeblich sicheren Herkunftsstaaten. Ich war und bin immer noch gegen die Änderung des Asylgrundrechts, weil die elende Debatte darüber elende Auswirkungen hatte, zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda und Solingen. Ich war auch deswegen gegen diese Änderung, weil das alte, das kompromisslose Asylgrundrecht eine notwendige Mahnung war – nicht die Augen zu verschließen vor dem Leid der Welt. Das alte Asylgrundrecht war eine Mahnung zur Fluchtursachenbekämpfung. Es machte kompromisslos klar: Wir können uns einmauern oder unseren Reichtum teilen.
Dieser Sonntag ist der erste Adventssonntag. Advent heißt Ankunft. Das Wort hat in flüchtigen Zeiten eine ganz besondere Bedeutung.
Ich wünsche Ihnen eine wunderbare Adventszeit.
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der SZ