Nord Stream 2 im Licht der Geschichte: Vor hundert Jahren wurde der Rapallo-Vertrag zwischen Deutschland und Sowjetrussland geschlossen.

Von Heribert Prantl, München

Rapallo ist ein kleiner Badeort bei Genua. Demnächst hat der Vertrag, der diesen Namen weltbekannt gemacht hat, sein hundertstes Jubiläum – der Rapallo-Vertrag. In Genua hatten sich im April 1922, zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg, in einer großen Konferenz die Sieger mit den neutralen und den besiegten Mächten getroffen. Bei Gelegenheit dieser Weltwirtschaftskonferenz verständigten sich Deutschland und Sowjetrussland hinter dem Rücken der westlichen Siegermächte im nahegelegenen Rapallo miteinander – ohne Vorwarnung und buchstäblich über Nacht schlossen sie einen Freundschaftsvertrag.

Es gibt Leute, die bezeichnen heute den Vertrag über Nord Stream 2 als „Rapallo 2“, obwohl diese Gasleitungs- und Gaslieferungsverträge durchaus nicht heimlich und nicht über Nacht geschlossen wurden. Aber vor allem den Amerikanern ist Nord Stream 2 so suspekt, wie vor hundert Jahren der Rapallo-Vertrag den westlichen Staaten suspekt gewesen ist – zumal die Amerikaner den Deutschen gern ihr US-Fracking-Gas verkaufen möchten. US-Präsident Biden hat beim Besuch von Kanzler Scholz in Washington angekündigt, die Ostsee-Gaspipeline werde nicht in Betrieb gehen, wenn Russland Krieg gegen die Ukraine führt; die Bundesregierung eiert derweil herum. Es ist lehrreich, sich in diesen Tagen an den Rapallo-Vertrag zu erinnern.

Gehen wir hundert Jahre zurück: Deutschland war damals, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, international isoliert; der Versailler Vertrag bedrückte das Deutsche Reich sehr. Und Russland gehörte zwar zu den Siegermächten des Weltkriegs, war aber nach der bolschewistischen Revolution und dem Sturz des Zaren-Regimes international geächtet. Der Rapallo-Vertrag war also ein Vertrag der Ausgegrenzten.

So sah er aus: Beide Seiten verzichteten gegenseitig auf Ersatz der Kriegskosten und der Kriegsschäden; damit wurde Artikel 116 des Versailler Vertrags hinfällig, der Russland Aussicht auf deutsche Reparationen eröffnet hatte. Im Gegenzug verzichtete Deutschland auf alle Ansprüche für das durch sowjetrussische Verstaatlichungsmaßnahmen betroffene deutsche Eigentum. Die durch den Krieg und die russische Revolution unterbrochenen diplomatischen Beziehungen wurden wiederaufgenommen. Eine schon begonnene militärische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee wurde justiert. Und das Deutsche Reich verpflichtete sich, Lager und Tankstellen zur Vermarktung russischer Ölprodukte einzurichten; man wollte so die deutsche Abhängigkeit von den britischen und amerikanischen Ölkartellen mindern, die den Markt beherrschten.

Deutsch-russische Verstrickung

„Aufregender als jeder Roman“, so hat der Publizist Sebastian Haffner die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg beschrieben; der Rapallo-Vertrag gehört zu diesen Aufregungen und zu einer Geschichte, die Haffner in einem großen Essay im Jahr 1968 als „Teufelspakt“ bezeichnet hat. Er beschreibt darin, wie Deutschland die russische Revolution gewollt und unterstützt hat. Nur ausgehend von diesem Bündnis Deutschlands mit der bolschewistischen Revolution – „ein Teufelspakt für beide“ – sei die komplexe Geschichte deutsch-russischer Verstrickung zu begreifen.

Rapallo, vor hundert Jahren. Die deutsche Delegation hatte am Rand der Konferenz in Genua Irritierendes gehört: Die Westmächte und Russland seien über deutsche Reparationen in Russland handelseinig geworden. In diese bedrückenden Gerüchte hinein klingelte in der Nacht vom Ostersamstag auf Ostersonntag das Telefon im Konferenzhotel der Deutschen. Der Hoteldiener verstand den Namen des Anrufers nicht so richtig; ein Herr mit einem komischen Namen wünsche ihn zu sprechen – so informierte er Adolf Georg Otto von Maltzan, den Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amts.

Freiherr von Maltzan galt damals als so russlandfreundlich wie heute Gerhard Schröder. „Ago“, wie er nach den Anfangsbuchstaben seiner drei Vornamen genannt wurde, vertrat die Interessen der Schwerindustrie und der Militärs. Am Apparat, es war kurz nach Mitternacht, war Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin. Der „Herr mit dem komischen Namen“ war seines Zeichens Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten der russischen Sowjetrepublik, ein polyglotter Mann mit deutschen Wurzeln, besten deutschen Sprachkenntnissen und einem sehr eiligen Gesprächsangebot an die Deutschen, noch für den gleichen Tag – also für Ostersonntag, in Rapallo, wo die russische Delegation logierte.

Osternacht, in der Suite von Walther Rathenau

Ago von Maltzan trommelte die deutsche Delegation aus den Betten, an der Spitze Reichskanzler Joseph Wirth. Man traf sich in der Suite von Außenminister Walther Rathenau. Rathenau war erst seit Februar Außenminister, Kanzler Wirth hatte den jüdischen Intellektuellen, Industriellen und renommierten Finanzfachmann in sein Kabinett geholt, um für die Deutschen die Verhandlungen am Weltwirtschaftsgipfel in Genua zu führen. Rathenau war ein national gesinnter Liberaler, der aber von einer starken rechtsgerichteten Publizistik als „Erfüllungspolitiker“ der Siegermächte beschimpft wurde. Er war kein Freund eines Sondervertrags mit Russland, wie ihn die Russen in Berlin schon auf ihrem Weg nach Genua angeboten hatten. Rathenau wollte den britischen Premier David Lloyd George unterrichten, sich mit ihm beraten, der aber ließ sich verleugnen.

War ein Separatabkommen, wie die Russen es schon zuvor angeboten hatten, sinnvoll, vertretbar oder gar geboten? Rathenau verneinte diese Fragen mit Entschiedenheit; die Historikerin Eva Ingeborg Fleischhauer hat das in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte fein nachgezeichnet. Rathenau vertrat den Standpunkt, dass die politische Wirkung des Vertrags verheerend und der wirtschaftliche Gewinn fragwürdig sein würden – und in keinem Verhältnis zu etwaigen Vorteilen.

Im Lauf der Pyjama-Konferenz in der Osternacht, nach dem Anruf Tschitscherins, so die Legende, soll Rathenau seine Gegnerschaft aufgegeben haben – nachdem auch Reichskanzler Wirth nachdrücklich für einen Vertrag plädierte. Er wollte so den „Ring von Versailles“ sprengen, also den Versailler Vertrag durch eine deutsche Zusammenarbeit mit den Sowjets zerstören. Maltzan behauptete später, er habe in dieser Nacht „geblufft“ und seinen widerstrebenden Minister „vergewaltigt“.

Wie auch immer – Rathenau verhandelte und unterzeichnete den Rapallo-Vertrag am Ostersonntag, 16. April 1922. Rathenau soll, unter Anspielung auf das Ostermysterium, von einem „Kelch“ gesprochen habe, der „geleert werden“ müsse. Der Vertrag wurde in Deutschland zumal von nationaler Seite sehr begrüßt; das hielt die rechtsextreme Organisation Consul aber nicht davon ab, Rathenau im Juni 1922 zu ermorden.

Der Rapallo-Vertrag wird bis hinein in die Gegenwart in den westlichen Ländern warnend zitiert. Rapallo ist ein diplomatisches Code-Wort: Der Vertrag hat einen gleichnamigen Komplex wachsen lassen, ein latentes Misstrauen in den westlichen Ländern, zumal in den USA, das immer dann erwacht, wenn… wenn deutsche Kanzler, wenn ein Konrad Adenauer, ein Willy Brandt oder ein Gerhard Schröder nach Moskau fliegen und mit Moskau verhandeln, wenn Deutschland also echt oder vermeintlich nach Russland schielt – oder wenn, wie aktuell, Deutschland sich mit der fertiggebauten Leitung Nord Stream 2 Gas liefern lassen will. Alte Zeiten, neue Lehren.

 


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